Familienszenen
Die Dialoge der Soldaten im engen Wachraum vor einer zu Streifen gespaltene „Familienbild-Fototapete“ machen gleich deutlich: Es geht um die kaputte Herodes-Familie. Frank Hilbrich zeigt eine sozial und psychisch verwahrloste Salome, vom Stiefvater sexuell missbraucht, von der Mutter schutzlos alleingelassen. Da wird der geheimnisvolle Jochanaan zum Objekt ihrer erotischen Wünsche – und nicht zu verarbeitenden Enttäuschungen. Die Katastrophe ist unabwendbar.
Die großartigen Sänger-Darsteller des Giessener Ensembles agieren mit absoluter Hingabe und singen auf höchstem Niveau. Das beginnt mit den Soldaten Chi-Kyung Kim und Dae-Bum Lee sowie Henrietta Hugenholtz als Pagen und John Carlo Pierce als empfindsamem Narraboth. Cornelia Dietrich gibt der Herodias frustrierten Charakter, und Vojtech Halicki-Alicca ist als Herodes ein wahres Päderasten-Monstrum voller sexueller Begierden – dazu ein stimulierender heller Tenor mit faszinierenden Ausdrucksmöglichkeiten! Markus Marquardts Jochanaan beeindruckt durch archaische Kraft, vermittelt mit seinem intensiv strömenden Bariton. Valerie Suty als Salome: eine junge Sängerin, die sich mit der Rolle hinreißend identifiziert und die mörderischen stimmlichen Herausforderungen mit Bravour besteht – ganz sicher eine große Hoffnung für das Musiktheater! Vergessen werden sollen aber auch nicht die Darsteller der sieben Juden und Nazarener, die ihre Rollen exzellent ausfüllen.
Die sinnvoll-sparsam genutzte Drehbühne schafft mit variablen schwarzen Säulen adäqute Spielräume (Bühne: Lukas Noll).
Hervorragend die emotionenreiche musikalische Interpretation durch das vorzügliche Philharmonische Orchester Gießen. Herbert Gietzen ermöglicht eine dramatische Kommunikation voller kalkulierter Dynamik und mit viel Verständnis für die Instrumental-Solisten und deren Gelegenheiten zu brillantem Spiel.
In der kommunikativ-dichten Atmosphäre des Giessener Theaters ist ein hochaufmerksames Publikum tief beeindruckt – erst langsam löst sich nach Sinken des Vorhangs die erlebte Beklemmung und macht Platz für langanhaltenden, dankbaren Applaus. Ein großer Abend! (frs)
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