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Fakten zur Aufführung 

LES TROYENS -
Die Einnahme von Troja

(Hector Berlioz)
26. Januar 2007
(Premiere: 14.1.07)

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen

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Kassandras Furor

Im ersten Teil der epochemachenden Oper des avantgardistischen Hector Berlioz (1856 komponiert, 1879 uraufgeführt) geht es um den Fall Trojas, um den mythisch verbrämten Trick mit dem Riesen-Pferd, um die verzweifelten Warnungen Kassandras - um das historisch-existentielle Fiasko des brutalen Sterbens zu Zeiten fanatischer Kriege.

Das avancierte Gelsenkirchener Musiktheater im Revier spielte beide Teile des hochkomplex-sperrigen Werks zur Premiere an einem Abend. Für die weiteren Vorstellungen entschloss man sich zur Verteilung auf zwei Abende - eine Entscheidung, die sehr wohl der Entscheidung des Komponisten entspricht (erst 1969 gab es überhaupt die Trojaner erstmals als ein fünfaktiges Gesamtwerk).

Andreas Baesler verlegt die griechische Mythologie - nach der Aeneis des Vergil, von Berlioz durch Shakespeare inspirierte „Verfremdungen“ dramatisierte Version - in das Ende des Ersten Weltkriegs: Die Welt ist im tödlichen Untergang, allein die Verheißung des „ewigen Rom“ begründet das unbegreiflich-(selbst)mörderische Sterben. Doch diese historisch-beschwörende Inszenierungsidee hat entscheidende Irritationen. Zum einen ist der Erste Weltkrieg nicht nur das Morden vor Verdun und in den Todesfeldern Flanderns - es gab Krieg auch in Kleinasien mit dem gegenseitigen Umbringen von Griechen und Türken, und es gab den Völkermord an den Armeniern; das wird offenbar nicht berücksichtigt (wenn auch die historisch-ambivalenten Kostüme von Gabriele Heimann auf diesen Aspekt verweisen).

Und die immer wieder beschworene Macht der Götter lässt sich offensichtlich nicht mit der „Gott mit uns“-Hybris der insinuierten Zeit vereinbaren. Die „Dicke Berta“ war kein Trojanisches Pferd, sondern ein nicht-funktionsfähiges Monstrum zur Menschenvernichtung. Und von einer Massen-Selbst-Tötung von Frauen in hoffnungslos belagerten Städten ist während des Ersten Weltkriegs nichts bekannt. Also wieder einmal: Die historisch-konkretisierende Realisierung der alten Mythologie stößt auf offenbar unlösbare Probleme!

Doch Baesler inszeniert auf der Bühne (atmosphärisch dicht, Verweise auf die Schlachtfelder Verduns - Hermann Feuchter) ein ungemein spannungsvolles Agieren der zerspaltenen Trojaner, immer wieder fokussiert auf die Unheil ahnende und leidenschaftlich warnende Kassandra. Es vermittelt sich die lastende Atmosphäre einer Gesellschaft , die hoffnungsvoll-sorglos einem trügerischen Frieden vertraut.

Samuel Bächli gelingt mit der Neuen Philharmonie Westfalen eine außergewöhnlich intensive Interpretation der faszinierenden Berlioz-Musik mit ihrer kompositorischen Komplexität. ihrer höchst eigenwilligen Instrumentierung und fatalen Herausforderungen in der provokanten Rhythmik. Das Orchester befindet sich permanent in Übereinstimmung mit der eschatologischen Botschaft der Oper und nicht zuletzt mit den Stimmen des Sängerensembles.

Anna Agathonos verleiht der Kassandra dramatische Stimme mit intuitiver Warnung, einfühlsamer Liebe und tödlicher Verzweiflung - ein Furor der Gefühle, doch fehlt ihr im finalen Desaster die letzte glaubwürdige Kraft. Jee-Hyun Lee beweist als Choreibus seine stupende Bass-Qualität und William Saetre liefert als Spion Sinon eine eindrucksvolle Charakterstudie. Christopher Lincolns Aeneas lässt auf den zweiten Teil hoffnungsvoll warten. Das Berlioz-erprobte Ensemble des Musiktheaters im Revier besteht die stimmlichen Herausforderungen mit Bravour.

Im nicht voll ausverkauften Haus müssen sich viele mit permanentem Getuschel über das komplexe Geschehen austauschen; vor allem avancierten Schulklassen fehlt offenbar die detailliert-intensive Vorbereitung. Respektvolle Zustimmung bestimmt den Schluss-Applaus. Den ambitionierten Aufführungen sind volle Häuser zu wünschen. (frs)


Fotos: © Rudolf Finkes