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Fakten zur Aufführung 

HÄNSEL UND GRETEL
(Engelbert Humperdinck)
31. Oktober 2010 (Premiere)

Musiktheater im Revier


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Lebkuchen für Alle

Hänsel und Gretel bleibt ein Märchen. Egal wie man es dreht und wendet. Egal, welche Aktualisierung man vornimmt, der kindliche Charakter der Oper ist im volkstümlich romantischen Ton der Oper fest verankert. Das sah man sehr schön in der neuen Inszenierung von Michiel Dijkema, der das Werk zwar aus dem romantischen Märchenwald herausholte, aber ihm weder kindlichen Charme noch die Aussage schuldig blieb. Schon vor der Oper wurde unten im Foyer das Marketing-Geschäft von „Leckermaul-Lebkuchen“ betrieben. Die rosa Rückseite der Leckerei-Verpackung zeigte interessante Hinweise: „nach dem Geheimrezept von 1893.....Da steckt mehr drin als man glaubt.“ Vermutlich hatten das nicht viele gelesen. Die Lebkuchen, von denen ja eigentlich alle wissen sollten, was sie in dem Märchen darstellen, wurden schon vor dem ersten Akt und in der Pause von vielen geknuspert. Die Werbung erfüllte ihren Zweck und das Konterfei der rot gelockten Dame (oder ist das ein Transvestit?) lächelte auch vom Vorhang in den Zuschauerraum.

Die Bühne, die sich Dijkema selber gebaut hat, war zunächst karg. Drei Stühle und Tisch, darüber aus dem Bühnenhimmel eine einfache Lampe, auf der Gretel später singend hin und her schwingen und den ersten Zwischenapplaus des Abends sichern wird. Das Publikum goutierte die spielerische, schwungvolle Inszenierung, die Hänsel und Gretel in einer Mischung aus Rasta-Locken und Punks zeigte. Es sind Kinder von heute in ärmlichen Verhältnissen, die die Reisig-Besen von gestern binden. Hungrig rammt Hänsel das Besteck in die Tischplatte, bevor die Mutter das heitere Spektakel beendet und die Kinder tief in den Wald schickt um Beeren zu sammeln. Der heimkehrende Vater erkennt die Gefahr, in der sich die Kinder befinden. Als er vorwurfsvoll vor der bösen Knusperhexe warnt, ändert sich das Licht im Haus. Mit Hilfe der genialen Beleuchtung von Patrick Fuchs wirft die nur scheinbar oberflächliche Märchenwelt immer wieder dunkle Schatten an die weiße Rückwand der Bühne. Das sind zwingende kurze Momente, wo sich hinter dem Volkstümlichen düstere Bedrohungen verbergen.
Das kleine Mädchen, das während des Zwischenspiels mit seinem weißen Teddy vor dem Vorhang herhoppste, freundete sich unglücklicherweise mit der nun leibhaftig auftretenden rot gelockten Dame an. Als es wegrennen wollte, war es zu spät. Unwillkürlich blitzten aktuelle Fälle von verschwundenen Kindern vor den Augen auf. Auf welche Werbung sind sie reingefallen?
Der (Besteck-)Wald, in dem sich Hänsel und Gretel verirrten, erinnert zum einen an die mit Messer und Gabel gespickte Tischplatte aus dem ersten Bild, zum anderen an den Film „Liebling, ich habe die Kinder geschrumpft.“ Als die scharfen Spitzen nach dem Abendsegen in den Bühnenhimmel gezogen wurden, nahm ihre Bedrohung fast noch zu, blieben sie doch wie das berühmte Damokles-Schwert über den Kindern schweben. Auch die vierzehn Engel – hier sind es im Programmheft so bezeichnete Heilige (schließlich ist am nächsten Tag „Allerheiligen“) – besaßen trotz schützender Gesten auch eine Aura des Unheimlichen. Eine Engel trug sogar – so erhält die Aufführung einen Hauch von „Halloween“ – seinen Kopf in der Hand, vielleicht war es ja die heilige Barbara. Doch im Theater kommen überirdische Szenen gerne unfreiwillig auf den Boden der Tatsachen an: Unglücklicherweise verlor ein knieender Engel beim Aufstehen den Halt, fiel um und kam in seinen weiten, weißen Gewändern nur mühsam auf die Beine. An dieser Stelle müssen endlich die stimmigen, schön bunten Kostüme von Claudia Damm erwähnt werden.
Das Hexenhaus war aus den übergroßen Lebkuchen-Packungen aus dem Foyer gebaut. Im Inneren verbarg sich ein riesiger Fleischwolf, der „Sweeney Todd“ alle Ehre machte. Der hexenhafte Transvestit, der plötzlich irgendwie in Hosenanzug und blonden kurzen Haaren an Hella von Sinnen erinnerte, kontrollierte die Maschine, die nicht richtig lief, und fand im Sägewerk den blockierenden weißen Teddy. Der Lebkuchen lag von da an etwas schwerer im Magen.
Das Märchen endete natürlich glücklich, doch während Vater Peter die helfende Hand Gottes dankend beschwor, drängten aus der Unterbühne schon die nächsten Hexen in ihren roten Perücken heran.
Das Publikum feierte die Inszenierung ausgelassen und belohnte das Regie-Team mit lautem Applaus. Nur ein einsamer Buh-Rufer wollte das gute Ergebnis nicht so stehen lassen. Vielleicht drückte ihn aber auch nur der Lebkuchen. Auch die musikalische Seite wurde zu Recht mit großem Jubel aufgenommen. Das einzige Manko einer durchweg guten Aufführung war leider eine sehr geringe Textverständlichkeit. Das Musiktheater im Revier arbeitete nicht mit Übertiteln, wie es an anderen Häusern auch bei deutschsprachigen Werken längst üblich ist. Gelsenkirchens erster Kapellmeister Johannes Klump setzte vorwiegend auf moderate Lautstärke, so dass dieses Manko kaum auf seine Kosten ging. Daneben ließ er recht munter aufspielen, setzte bei weitem nicht nur auf eingängige Romantik sondern ließ passend zur Inszenierung auch gerne die unangenehmen, reibenden Elemente von Humperdincks Komposition zur Geltung kommen. Die Neue Philharmonie Westfalen setzte sein Konzept insgesamt sehr konzentriert um.
Auch wenn so manches Wort unter ging - über den schönen Klang der Stimmen kann man nur schwärmen: Almuth Herbst war ein stattlicher Hänsel in Erscheinung und Stimme, der man das Lausbubenhafte anhörte. Ideal das unaffektierte Zusammenspiel mit seiner Gretel von Alfia Kamalova, die wirklich wie eine jüngere Schwester wirkte. In ihren gemeinsamen Szenen herrschte szenische wie vokale Harmonie, da auch die Sopranistin mit ihrem natürlichen, frischen Sopran vollauf zufrieden stellte. Etwas mehr Durchschlagskraft wäre der Künstlerin noch zu wünschen. William Saetre siedelte seine Hexe überzeugend zwischen Travestie und Psychopath an, wusste revuehaft zu glänzend sowie boshaft zu fauchen. Während Nan Li als Sand- und Taumännchen mit feinen Tönen erfreute, blieb Noriko Ogawa-Yatake etwas hinter der Leistung ihres Bühnenmannes zurück: Björn Waag lieferte ein schwungvolles Portrait des Peter Besenbinder und war einer der Publikumslieblinge. Großen Applaus erhielt auch zu Recht der Gelsenkirchener Kinderchor (Einstudierung Alfred Schulze-Aulenkamp), der die Lebkuchenkinder mit viel Engagement und durchaus hörenswert sang.
Im Publikum herrschte hörbar gute Laune: Die einen nutzten hemmungslos jedes Zwischenspiel um sich mit dem Nachbarn zu unterhalten, die anderen ließen sich vom Bühnengeschehen so mitreißen, dass jede etwas größere Aktion mit Zwischenbeifall bedacht wurde. Am Ende feierten sie aber lautstark alle Beteiligten. Und im Hinausgehen kauften sie noch eine gute Portion Lebkuchen....

Christoph Broermann