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Fakten zur Aufführung 

PETER GRIMES
(Benjamin Britten)
24. Januar 2009 (Premiere)

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen


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Das kollektive Böse

Die Schuld Peter Grimes’ am Tod seiner Schiffsjungen aus dem Waisenheim wird nie geklärt – so sind alle Türen offen für Gerüchte, Verleumdungen, permanente Aggression einer selbstgerecht-bösartigen Kleinstadt-Mischpoke. Brittens rücksichtslos analysierendes, bewegend emphatisches Meisterwerk gegen das kollektive Böse von 1945 (!) wird in Elisabeth Stöpplers atemberaubender Inszenierung zur emotionalisierenden Anklage gegen Bigotterie, Doppelmoral, Indifferenz, Materialismus, Sexismus, Intoleranz und unbegriffen übernommene Feindbilder. Doch wird hoch differenziert auf die Freiheitsräume der Individuen verwiesen, ist Peter Grimes ein gespaltener Kämpfer für Bereicherung, unfähig zu echtem Vertrauen, zu bedingungsloser Hingabe – ein durchaus kompatibles Opfer der massenhaften Hysterie, zugleich ein schuldlos-schuldiger Täter.

Elisabeth Stöppler gelingt mit Chor, Extrachor und Statisterie eine geradezu kongeniale Umsetzung von Brittens allgegenwärtiger Meer-Symbolik in komplex-differenzierendes Bühnenhandeln, lässt den kollektiv agierenden Charakteren ihre je spezifische Individualität, schafft Bilder von beklemmender Eindringlichkeit, korrespondierend mit der alles erklärenden Musik!

Rasmus Baumann leistet dazu mit den hochkonzentrierten Musikern der Neuen Philharmonie Westfalen ein Wunder an musikalisch-deutender Deutung: Nicht nur die elementar-archaischen Sea-Interludes werden zu existenziell nachvollziehbaren „Weltbildern“, auch die Charakterisierung der Figuren mit ihrem platten Handeln und ihren verborgenen Seelen-Regungen wird zur Demonstration musikalischer Ausdrucks-Kunst!

Kathrin-Susann Brose nutzt die offene Bühne zur Präsentation hermetisch-indifferenter Räume, schafft mit chaotisch-fokussierten Accessoires das Ambiente permanenter Aggressivität – und vermittelt mit einem Schlauchboot das ständige Symbol für seetüchtige (gesellschaftliche, menschliche, seelische) Gefährdung.

Mit Jan Vacík ist am MiR ein ausdruckskompetenter Tenor der Extraklasse zu hören und zu erleben: in der Darstellung hingerissen zwischen Auflehnung, Selbstzweifel und Brutalität, sängerisch souverän wechselnd von heldentenoraler Strahlkraft zu leidender Kopfstimme und zur variablen Mittellage. Majken Bjerno gibt eine hilflos-mitleidende Ellen - liebend, skeptisch, abhängig zugleich; stimmlich vermittelt sie die irritierten Gefühle mit einer ungemein variablen Stimme – samtweich in den gefühlvollen Szenen, konturiert in den Zweifeln, hell-leuchtend in ihren Rechtfertigungen. Thomas Möwes als Kapitän Balstrode vermittelt selbstsichere Seemanns-Autorität, agiert ungemein authentisch, verleiht dem gradlinig-wertetreuen Seebären angemessene baritonale Statur.

Für den beeindruckenden Erfolg der Aufführung sorgt die geradezu grandiose Besetzung der vielen „kleinen“ Rollen: Anna Agathonos ist die stimulierende Wirtin Auntie mit impulsivem Stimm-Einsatz; Elise Kaufman und Noriko Ogawa-Yatake sind die erotisierenden „Nichten“ mit Sex-Ausstrahlung und frappierender stimmlicher Agilität; William Saetre als fanatischer Methodist, E. Mark Murphy als kalter Pastor, Piotr Prochera als Dreckskerl Keene, Marie-Helen Joël als drogenabhängige Mrs. Sedley, Dong-Won Seo als trommelnder Hobson, Michael Tews als prinzipientreuer Jurist, Axel Wiese als devoter Dr.Crabbe – sie alle spielen im Sinne eines hoch emotional-reflektierten Menschheits-Dramas, setzen ihre beeindruckenden stimmlichen Möglichkeiten ein, zur Vermittlung elementarer Seelenkräfte.

Christian Pelker gibt den John mit intensiv-naivem Spiel!

Über die kollektive Spiel-Kompetenz des Chors und das hinreißende Singen als hin- und hergerissene aufgeputschte Menge mit den individualisierenden Zwischentönen kann nur Bewunderung zum Ausdruck kommen.

Das aufnahmebereite Publikum im so experimentierfreudigen Gelsenkirchener Musiktheater im Revier folgt mit steigernder Spannung, konzentriert sich auf intensivierende Musik, stimulierenden Gesang, lässt sich ein auf die imaginierenden Unterwasser-Bilder von Andreas J. Etter und applaudiert am Schluss eine Viertelstunde lang. Doch sitzt auch da am rechten Rand der 4. Parkettreihe ein unangepasstes Pärchen, das offenbar nicht unterscheiden kann zwischen der heimischen Couch und den jahrhundertealten Konventionen der Theater-Rezeption. (frs)
 






 
Fotos: Pedro Malnowski