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Fakten zur Aufführung 

AIDA
(Giuseppe Verdi)
26. Oktober 2008 (Pemiere)

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen


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Zerstörte Individualitäten

Da sitzt Radames auf einem kalten Stuhl und erlebt qua Kopfgeschirr die Gehirnwäsche. Roland Schwab inszeniert Verdis Aida als historische Grenzen sprengendes Menetekel digital vermittelter, ideologisch gesteuerter Identitäts-Zerstörung. Die „Priester“ sind gnadenlos brutale Herrscher, beherrschen die Techniken kollektiver Macht-Instrumente und triumphieren als Initiatoren der ausweglosen Tötung von Radames und Aida – die dann auch noch zynisch in das (verlogene) Reich des Todes eingehen. Schwabs Inszenierungskonzept entwickelt sich immer deutlicher werdend von Szene zu Szene, verliert sich aber in den kommunikativen Zusammenhängen in manieristischen Mätzchen aus dem Baukasten des reduzierten Ausdruckstanzes.

Garant für das Gelingen des Konzepts ist die ästhetisch frappierende Bühne von Hans Dieter Schaal – eine riesige runde Öffnung zum Hintergrund: mal dämonisch beleuchtete Kulisse, mal Nil-Strom mit schwebenden Leichen, mal Raum für die Marter-Inquisition, mal tiefschwarzer Raum als Blick ins Totenreich. Renée Listerdal steckt die Akteure in zeittypische Kostüme unterschiedlicher historischer Phasen erlittener ideologisch begründeter Gewalt: das Ägypten vor Echnaton, die Zwanziger Mussolini-Jahre, ein diffuses Heute.

Das Publikum benötigt lange Zeit, um den Aussagekern dieser außergewöhnlichen Aida nachzuvollziehen – ein einziger Satz, projiziert auf den schwarzen Vorhang, hätte da helfen können.

Doch beherrscht gespannte Aufmerksamkeit das Auditorium, entlädt sich am Schluss in lautstarkem Applaus und einigen aggressiven Buhs – das sind aber offensichtlich nicht die Ignoranten, denen die Elefanten fehlen, sondern die vom so ungewöhnlich alternativ-machtkritischen Konzept unvorbereitet Überraschten.

Musikalisch entwickelt Samuel Bächli mit der engagiert-präzisen Neuen Philharmonie Westfalen einen sehr differenzierten Klang, vermeidet die Klischees des permanent Heldischen und des selbstgerechten Triumphs, betont vielmehr die reflektierenden Akzente und konterkariert die heroischen Passagen mit hinterfragenden Instrumenten-Einsätzen. In dieser Konsequenz ist das neue Verständnis der so lange missverstandenen Verdi-Komposition wohl noch nicht durchgehalten worden.

Diesem Impetus des tödlichen Konflikts zwischen ideologisch bestimmter Macht und individuellem Desaster sind die Solisten verpflichtet: Ricardo Tamura ist ein fremdbestimmter Radames, charakterisiert mit seinem kraftvoll-höhensicher-ausdrucksstarken Tenor eine hoffnungslose Existenz. Majken Bjerno vertritt mit ihrem emotional-lagensicheren Sopran eine außergesellschaftlich-alternative Aida wie eine Rusalka aus dem Nil: vergebens nach Menschlichkeit suchend. Dagegen ist der dramatisch-verhaltene Mezzo von Anna Agathonos der Gegenpol als Autonomie suchende Amneris. Michael Tews gibt dem usurpatorischen Priester Ramphis dämonischen Charakter, verleiht ihm nachhaltigen Eindruck mit einer dunkel-variablen Stimme mit ausdrucksstarken Zwischentönen. Björn Waags Amonasro ist der system-gefährdende Feind mit einem kernig gegründeten Bariton voller elementarer Kraft. Dong Won Seo gibt mit zuverlässiger Intonation dem König repräsentativ-marionettenhaften Charakter. Alfia Kamalova ist eine Tempelsängerin mit klarer Stimme, und E. Mark Murphy überzeugt als alarmierender Bote. Der Opernchor des Musiktheaters im Revier beeindruckt – endlich wieder einmal – als Ensemble brillanter Einzel-Darsteller und singt als perfekt abgestimmtes Kollektiv!

Das Musiktheater im Revier leistet mit der sensationell-reflektierten Aida einen wichtigen Beitrag für das neue gesellschaftskritische Musiktheater! (frs)
 






Fotos: Pedro Malinowski