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Fakten zur Aufführung 

LEAR
(Aribert Reimann)
28. September 2008 (Premiere)

Oper Frankfurt


Points of Honor                      

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Gesang

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„Alle sind Einsame in diesem Dröhnen“

Neue Opern oder Werke für das Musiktheater, die es aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ins sogenannte Standardrepertoire geschafft haben, kann man an zwei Händen abzählen. Aribert Reimanns Lear gehört (aus deutscher Perspektive jedenfalls) zweifellos dazu. Seit der Uraufführung in München 1978 ist er einigermaßen regelmäßig in den Spielplänen vertreten. Jetzt in Frankfurt ist es ein kleiner Geburtstag: Zum 30-jährigen gibt es die 20. Neuinszenierung! Und für das Geburtstagsfest hat man in Frankfurt mit großem Engagement und Enthusiasmus alle Kräfte des Hauses gebündelt, ein Sängerensemble der Extraklasse zusammengestellt und ihnen eine ausgedehnte Probenzeit ermöglicht. Für Sebastian Weigle, der an der Frankfurter Oper schon mehrfach dirigierte und der diese Saison als Generalmusikdirektor die Nachfolge von Carignani antritt, ist es ein extrem vielversprechender und hoffentlich auch ein programmatischer Einstand.

Der erste Eindruck: Das Stück ist frisch wie am ersten Tag, kein 'Altern der Neuen Musik' ist hier feststellbar. Musik und Inszenierung mit einer anhaltenden, hochgespannten Sogwirkung nehmen das Publikum von Anfang an gefangen. Das Glück der Besetzung zeigt sich schon vor dem Beginn. Graham Clark ist der 'Narr' dieser Produktion. Wer Clark einmal als Mime als begnadeten Schauspieler gesehen und gehört hat, weiss sogleich, was für ein gelungener Coup die Besetzung dieser (Sprech-) Rolle mit ihm ist. Als Anfang vor dem Anfang bastelt er aus Spielkarten ein Kartenhaus, das kurz darauf in sich zusammenfällt. Der Narr im Lear ist jemand, der alles weiß, aber nie beachtet wird und so nimmt er es gleich vorweg: Lears Plan misslingt. Clark verkörpert den Narren auch gestisch als Fremdkörper, der er als Schauspieler unter Sängern ja konzeptuell auch ist, er ist beweglicher, schneller, agiler. Als er am Ende des ersten Teils nicht mehr benötigt wird, weil Lear selbst zum Narren wird, aber zu einem, der nichts erkennt und in den Wahn abgleitet, zieht sich der Narr eine Plastiktüte über den Kopf und tritt ab.

Lear in der Person von Wolfgang Koch ist der Kern der Aufführung. Er beherrscht die Rolle schauspielerisch und gesanglich ganz hervorragend, vom Flüstern bis zum großen Ausbruch hat er sich den Lear ganz anverwandelt. Es ist ein Weg vom eitlen, selbstverliebten Herrscher zum Wahnsinnigen, doch seine Entmachtung und die damit verbundene Identitätskrise, das Hilfloswerden im Alter wie im Wahn ist auch ein Zu-sich-selbst-kommen. Erschütternd dann die große Trauer nach dem Tod der Cordelia und der Zusammenbruch. Hochrangig auch die drei Töchter: Die furienartig agierenden, so machtbewusst wie kampfbereiten Töchter Goneril und Regan - Jeanne-Michèle Charbonnet und Caroline Whisnant. Britta Stallmeister als sich verweigernde Cordelia, als Lichtgestalt weißgewandet, entspricht ganz der Sicht Reimanns: „lyrisch, immer abgerundet, ausgewogen“. Martin Wölfel überwältigt mit der Stimmakrobatik des Edgar: Tenor als Sohn Glosters und Counter-Tenor als sich wahnsinnig stellender Tom. Frank van Aken als sein Bruder, der 'Bastard' Edmund, ist von ganz anderem Holz: der Makel der falschen Geburt löst bei ihm eine skrupellose Karrierewut aus, der er gewissenlos brutal nachgibt. Die weiteren Rollen: König von Frankreich: Magnus Baldvinsson; Herzog von Albany: Dietrich Volle; Herzog von Cornwall: Michael McCown; Graf von Kent: Hans-Jürgen Lazar und als Graf von Gloster: Johannes Martin Kränzle. Die Textverständlichkeit war fast immer ausgezeichnet gegeben. Die Frankfurter Oper hatte die Aufführung trotzdem als Verständnishilfe mit Übertiteln versehen.

Das Riesenorchester ist bei Lear extrem gefordert. Das Frankfurter Museumsorchester stellt sich dem Werk mit Bravour und Eindringlichkeit und bleibt dem Werk nichts schuldig: Die charakteristischen Streicher-Klangflächen, die bedrohlichen Ballungen und Eruptionen in Blech und Schlagwerk. Weigle wählt eine klare, transparente Sichtweise, sorgfältig gestaltet sind die dynamischen Abstufungen und Intensitätsgrade, vom Kammermusikalischen bis in die Forte-Extreme, gerät dabei aber nicht ins Hässliche.

Der britische Regisseur Keith Warner, Bühnenbildner Boris Kudlička und der Kostümbildner Kaspar Glarner legen den Lear überzeitlich an: Die Kostüme zitieren einen Zeithorizont vom späten Mittelalter bis heute, Goneril benutzt mit Laptop ganz heutiges Equipment. Edmund hat ein Outfit wie ein Guerillakrieger und die Armeen könnten auch aktuellen Kampfhandlungen entsprungen sein. Die Inszenierung des erbarmungslosen Ablaufs vereint eine wirkungsvolle, schlüssige Personenführung mit starken Bildern. Komprimierte Räumlichkeiten wechseln mit hohen Hallen, diese mit fast requisitenlosen Freiflächen. Einzelne Szenen werden zu lang in Erinnerung bleibenden Menetekeln und Theaterbildern. Stark etwa die 'Heide'-Szene: Von Natur keine Spur. Die Heide ist verdreckt und zu einer riesigen bühnenhohen Müllhalde mit zeitgenössischen Abfällen denaturiert. Das Ganze ist minutiös und mit viel Liebe zum Detail, zugleich aber auch funktional – es gibt Verstecke, Unterschlüpfe, Leitern und Seile zum Fortbewegen – organisiert. Der Narr, ganz praktisch veranlagt, organisiert noch einigen Sperrmüll, um wohnlich einen Unterstand einzurichten. Im Gegensatz zu Shakespeare ist die Natur nicht mehr feindlich. Es gibt keine Natur mehr. Nicht nur die menschlichen Verhältnisse sind beziehungslos egoistisch erkaltet, auch die Beziehung zur Natur ist an einem ausweglosen Ende angekommen, das auch die Lebensbedingungen an ein Ende führt. Lears Beschwörung: „Vernichte die Natur, ersticke den Schöpfungskeim“ ist schon längst realisiert. Auch die schwierigen Simultanszenen des Lear im zweiten Teil sind so ästhetisch wie praktisch grandios gelöst. Die Bühne leer und dunkel, in der Mitte eine rotierende Regenwand, die zugleich als Screen für die dezenten Videoprojektionen (Thomas Wollenberger, Evita Galanou) dient. Bei dem Wetter ist schlechte Sicht nur folgerichtig und Simultaneität eine praktische Konsequenz.

Ob die Inszenierung eine eigene 'These' vertritt, ist schwer zu entscheiden, auch, wieviel Spielraum die düstere Partitur mit dem gnadenlosen Ablauf dafür überhaupt lässt. Das Menschen- und Weltbild ist negativ. Alle Werte und Zusammenhänge sind nihiliert: Familie, Freundschaft, Liebe. Macht dient nur dem Machtmissbrauch, zur Durchsetzung egoistischer Ziele. Ansätze von Moral oder Ethik sind nicht erkennbar und am Ende herrscht nur Tod und Vernichtung. Das Werk endet mir einer Klage- oder Trauermusik, auch musikalisch ist es ohne jeglichen Hoffnungsschimmer. „Der Horror geht immer weiter.“ sagt Warner. Trotzdem, oder um die Geschichte etwas erträglicher zu machen, baut Warner einige ironische Wendungen ein, etwa ein paar Amüsierdamen im Gefolge des Lear, die schönen Fundstücke auf der Müllhalde, Graham Clark vermag da sogar noch eine Vase und Blümchen aufzutreiben: Irgendwie muss man es ja aushalten. Wichtig ist Warner die Jalousiemetapher, die er zweimal in die Inszenierung einfügt. In der ersten wie in der letzten Szene, Familientableaus im engeren Sinne, sehen wir die Handlung diskret hinter einer nur partiell durchblickbaren Jalousie. Man sieht nicht alles, nur Ausschnitte, es gibt nur eine Perspektive und die ist immer begrenzt.

Das Publikum feierte Dirigat, Orchester, Regie und Ensemble mit langen Ovationen. Auch Aribert Reimann erschien sichtlich bewegt auf der Bühne.

Ein Ausblick: Diese Eröffnungspremiere der Spielzeit 2008/09 wurde von dem Label Oehms Classics mitgeschnitten und soll im kommenden Frühjahr als CD auf den Markt kommen. Eine Wiederaufnahme der Inszenierung in einer der nächsten Spielzeiten ist schon in Aussicht gestellt. Aktuell arbeitet Reimann an einer 'Medea'-Oper als Koproduktion der Wiener Staatsoper und der Oper Frankfurt. Die Deutsche Erstaufführung ist für September 2010 angesetzt, die Uraufführung in Wien im März 2010.

Dirk Ufermann

 






Fotos: Barbara Aumüller