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Fakten zur Aufführung 

ZEITUNG
(Anne Terese de Keersmaeker/
Alain Franco)
12. September 2008

Ruhr-Triennale
PACT Zollverein Essen


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Nach der Premiere im Januar 2008 am Théâtre de la Ville in Paris zeigte Anne Teresa de Keersmaekers Tanzkompagnie Rosas ihren neuen Tanzabend an drei Tagen im Essener PACT-Zollverein: 'Zeitung' nach Kompositionen von Johann Sebastian Bach, Arnold Schönberg und Anton Webern – ein triumphaler Erfolg für ein Meisterwerk.

Die Szene: eine fast leere Bühne, ein aus bloßem Holz bestehender Bühnenboden, der in der Mitte von zwei Bahnen schwarzem Tanzboden unterteilt wird; an de n Seite n einige Stühle und Sessel, an den Wänden riesige Leinwände, mit dem Rücken zum Publikum - und links: ein Bösendorfer Imperial-Konzertflügel (Bühne und Licht: Jan Joris Lamers). Dekor und Neonlicht geben dem Raum den Charakter eines Probenraums, später hingegen schaffen einzelne wirkungsvolle Lichtwechsel der Choreographie noch eine zusätzliche Dynamik und Stimmung.

Am Flügel: Alain Franco, der den Abend von musikalischer Seite zusammen mit Anne Teresa de Keersmaeker konzipierte. Wie die neun Tänzer und Tänzerinnen trägt er Alltagskleidung (Kostüme: Anne Catherine Kunz). Franco ist in jeder Hinsicht für die Musik zuständig: Klavierwerke spielt er selbst, Orchesterstücke von Schönberg und Webern ergänzt er als 'DJ' mit Aufnahmen. Bach taucht allein als Klavierkomponist auf, schwerpunktmäßig Präludien und Fugen aus dem Wohltemperierten Klavier, Schönberg und Webern sind dagegen neben Klavierwerken auch mit hochexplosiven Orchesterstücken vertreten. Alain Francos Bachspiel hat einen runden, vollen Klang, er vertritt also eher einen 'romantischen' Interpretationsstil. Im Laufe des Abends prallen die musikalischen Epochen aufeinander, Harmonie trifft auf freie Atonalität. Schönberg und ein früher Webern dient als Bindeglied zwischen den Zeiten, Webern antwortet sogar einmal direkt auf Bach. Seine Bearbeitung der Bachschen Fuga ricercata zu sechs Stimmen aus dem Musikalischen Opfer, verbindet die Jahre 1747 und 1934. Wie eigentlich immer bei den Produktionen von Rosas ist die Musik exzellent und beziehungsreich gewählt.

Anne Teresa de Keersmaeker untersucht in 'Zeitung' die Beziehung von Musik und Bewegung, Barock und Moderne, Tonalität und Atonalität, Improvisation und Choreographie, also von Strenge und Freiheit. Choreographiert wird nicht eins zu eins zur Musik, sondern mal zur, mal gegen und mal ganz ohne Musik. Die Musik, insgesamt 26 Teile, beginnt mit Weberns 'Entflieht auf leisen Kähnen' (op. 2, 1908), dem einzigen Vokalwerk, alterniert dann zu Bach, dann zweimal Webern, zweimal Bach, zweimal Webern, dann zweimal ein Bach–Webern-Wechsel, dann Schönberg... etc. Es ist also keine Evolution der musikalischen Zeitstile, sondern die Anordnung folgt einem systematisch alternierenden Schema, manchmal unterbrochen von Stille. Jedes Stück verfügt über eine eigene choreographierte Spannungsstruktur. Die jähen Wechsel von Harmonie und Disharmonie erscheinen mit der Zeit ganz natürlich, als gehörten sie zueinander und bedingten sich gegenseitig.

Die strenge, dichte, intensive, geometrieorientierte Choreographie geht nicht über die Tänzer hinweg, sondern lässt der starken individuellen, biographiegetränkten Präsenz der Einzelnen improvisatorischen Raum, was jedoch nicht im Eigenwilligen oder Willkürlichen endet. Die Tänzer agieren in Solos, Duos, Trios und Gruppensequenzen. Basisphrasen und Basisverläufe durchwandern die verschiedenen Körper, werden variiert, entwickelt, abgebrochen. Nicht alles ist "Tanz", sondern auch einfach Bewegung im Raum: Schritte, Durchschreiten oder bloßes Anwesendsein. Immer wieder wird die Strenge durch lockere Gesten gebrochen. Der Tanzabend endet auch ganz beiläufig, die Tänzer rollen den schwarzen Tanzboden auf, tragen die Stühle ins off. Cynthia Loemij, Rosas Tänzerin seit den Anfängen 1983, tanzt zu Anton Weberns spätromantisch gesättigten, von den Klangfarben her schon präimpressionistischen Tondichtung "Im Sommerwind" (1904) ein überwältigendes Solo. "Im Sommerwind" ist ein Werk des Nicht-mehr und Noch-nicht, ein Werk zwischen den Zeiten. Anschließend nimmt sie den letzten Stuhl und verschwindet.

Wie ausnahmslos bei den Produktionen von Rosas ist die Perfektion und Binnenabstimmung, die vitale Energie und Kraft der Tänzer und Tänzerinnen in dem knapp zweistündigen Werk fast erschreckend. In den letzten Monaten scheint die komplexe Produktion noch an Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit in bewundernswertem Ausmaß zugenommen zu haben. Eine körperliche wie intellektuelle Höchstleistung, die vom hochkonzentrierten Publikum zu Recht mit dankbarer Begeisterung aufgenommen wurde.

Dirk Ufermann

 





Fotos: Herman Sorgeloos