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Fakten zur Aufführung 

THE ORPHAN
(Jeffrey Ching)
6. Dezember 2009
(Uraufführung: 29. November 2009)

Theater Erfurt


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Rache

Es hätte eine verständnisvolle Begegnung zweier Kulturen werden können, ein Brückenschlag zwischen der uralten chinesischen und der europäischen. Doch die Veroperung jener Geschichte vom Waisenkind, die ins 6. vorchristliche Jahrhundert Chinas zurückreicht, scheitert an einem geradezu banalen Grund: an dem stellenweise ungenießbaren Libretto. Das hat sich Komponist Jeffrey Ching selbst geschrieben. Offensichtlich hat er versucht, die kunstvollen chinesischen Verse genau so kunstvoll zu verdeutschen. Was ihm gründlich misslang, legt man Maßstäbe an, denen deutsche Ohren gehorchen. Zu hören ist das Original – simultan dazu ein entsetzlich radegebrochenes „Deutsch“: zerfetzte Sätze, deren Sinn man sich mühevoll zusammendichten muss. Was ist von „Ich siebzig sterben jetzt wäre so alt... einzig! glänzte Osmingti!“ zu halten? Verwirrender - und auch klischeehafter - geht es nicht. Was um aller Welt hat den Komponisten geritten, derart absurd fragmentierte Texten zu drechseln? Womöglich steckt eine Intention dahinter? Nur welche? Man erfährt es nicht.

Das ist schade, sehr schade. Denn die Geschichte als solche lohnt erzählt zu werden, erinnert ganz entfernt an den biblischen Bericht vom Mord an allen Neugeborenen, als König Herodes von der Geburt eines „Königs“ namens Jesus erfährt und unmittelbar das kollektive Massakrieren anordnet. Das chinesische Waisenkind überlebt (wie Jesus), nimmt aber (anders als Jesus), nachdem es 15 Jahre alt geworden ist, blutige Rache, wozu die Geister der toten Ahnen wie Vater und Mutter ihn animieren. Hamlet lässt grüßen!

Noch einmal: der Umgang mit der deutschen Sprache. Wie Jeffrey Ching, der seit geraumer Zeit in Berlin lebende, 1965 auf den Philippinen geborene Komponist, ihn an den Tag legt, zeitigt bereits nach zehn, fünfzehn Opernminuten nur eines: Abschalten und Weghören. Dabei ist Chings Musik von Anfang an faszinierend! Er bedient sich eines Orchesters von schier überbordender Farbigkeit. Da gibt es Streicher und Bläser wie gewohnt. Dazu Instrumente, die einen Viertelton niedriger gestimmt sind und bizarre Effekte liefern, außerdem Flügel, Cembalo und Continuo-Orgel, elektrische Gitarren, eine Glasharmonika, selbst eine Ondes Martenot! Und vor allem: ein riesiges Arsenal an Perkussionsinstrumenten. Das schwebt den ganzen Opernabend lang auf einer Brücke über der Szene. Ein genialer Einfall, wie auch die Bühne, die Markus Meyer als einen sich wie ins Unendliche hinein verjüngenden schwarzen Tunnel anlegt. Hier, auf dieser eher nüchternen Spielfläche ereignet sich auch optisch, was in Chings Musik angelegt ist: das Nebeneinander von chinesisch inspirierter Musik und solcher, die in Frankreich, Italien, Spanien und Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert gepflegt wurde. Der Stoff zu Das Waisenkind kam nämlich schon 1735 nach Frankreich, verbreitete sich von dort aus in ganz Europa. Just diese Rezeptionsgeschichte wird in Jeffrey Chings Oper nachvollziehbar dadurch, dass neben chinesisch auch italienisch, französisch, englisch, spanisch und (vernünftig) deutsch gesungen wird. Die Übertitelanlage hilft zu verstehen. Die Musik, von Samuel Bächli haargenau koordiniert, changiert zwischen all diesen Welten. Neben Klängen, die unseren Ohren gern als chinesisch vorkommen, tönt es französisch-barock à la Rameau, da wird Kontrapunktik gepflegt und die Kunst des Ricercare hochgehalten. Überraschend sind Einsprengsel, die bis hinein in die europäische Frühromantik hineinreichen. Und: sogar Assoziationen an Filmmusik werden geweckt!

Regisseur Jakob Peters-Messer bebildert die von etlichen Leichen gepflasterte Geschichte sehr dezent, inszeniert ein von asiatischer Nüchternheit geprägtes Spiel. Statuarisch und ritualisiert bewegen sich die Figuren, gekleidet in höchst beeindruckende Kostüme (Sven Bindseil), die vom europäischen Barock scheinbar mühelos ins chinesische Altertum wandern. Verzichtet hätte man indes besser auf die an Gunter von Hagens Plastilinleichen erinnernde Einführung in die chinesische Körperkunde ganz zum Schluss der Oper, als der für all die Gräuel verantwortliche Hofbeamte Dag-Ngans-Kagh zu einem qualvollen Tod verurteilt und vor aller Augen genüsslich seziert wird.

Den SängerdarstellerInnen gebührt größter Respekt. Sie leisten Enormes! Sebastian Pilgrim als Bösewicht Dag-Ngans-Kagh steht den Abend über auf Stelzen und lässt seinen ebenmäßigen Bass nobel strömen. Máté Sólyom-Nagy ist des Hofbeamten General namens Étan, der das gefährdete Waisenkind schützt und sich im Zuge dessen selbst umbringt – aber bis dahin vorzüglich singt. Marisca Mulder und Denis Lokey beglaubigen die Rollen der Eltern des Kindes, Marwan Shamiyeh schlüpft in die Haut des Hofbeamten a. D. Alsingo, der das Überleben des Waisenkindes ermöglicht. Die Titelrolle füllt Andión Fernández stimmlich ganz prächtig und ist darstellerisch in jeder Sekunde der spannungsgeladenen Geschichte hundertprozentig präsent. Cheng Ying, der Arzt, der das Waisenkind empfängt, ist doppelt vorhanden: als Tänzer (ganz fantastisch: Julien Feuillet-Dolet) und als Sprecher (virtuos: Peter Umstadt)

Fazit: Jeffrey Chings Opernkonzept ist grundsätzlich gut. In allen Facetten wirklich bühnentauglich und nachvollziehbar würde es allerdings wohl erst nach einer gründlichen Überarbeitung, etwa in Zusammenarbeit mit einem cleveren Dramaturgen.

Erfurts Publikum teilt sich in zwei Lager: hier jene, die entnervt bereits zur Pause gehen – dort die Ausdauernden, die sich den zweiten (gelungeneren) Teil nicht entgehen lassen . Freundlicher Beifall für das gesamte Team, großer Respekt vor der musikalischen Leistung.

Christoph Schulte im Walde

 









 
Fotos: Lutz Edelhoff