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Fakten zur Aufführung 

HÄNSEL UND GRETEL
(nur für Erwachsene)

(Engelbert Humperdinck)
15. Januar 2005 (Premiere)

Theater Erfurt

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Nur für Erwachsene

Es hätte schief gehen können. Doch Regisseur Giancarlo Del Monaco vollbrachte ein Zauberkunststück: Er inszenierte eine der Märchenopern des Standardrepertoires in moderner Weise und schaffte es, ein ernstes brisant-gesellschaftliches Tabu-Thema ein Stückweit aus der Sprachlosigkeit herauszuholen. „In dem Stück und dem Text liegt eine kaum ausgesprochene Wahrheit, die der Pädophilie, der Gewalt und des sexuellen Missbrauchs an Kindern“, sagt Del Monaco. „Unglaubliche Summen werden damit verdient. Darauf möchte ich aufmerksam machen, auch wenn ich riskiere, ein schweinischer Regisseur genannt zu werden.“

Diese Befürchtung hat sich nicht bestätigt. Er ist in Wahl und Sparsamkeit der Mittel der Regie so geschickt und effektiv vorgegangen, dass er immer die Gratwanderung geschafft hat, die beabsichtigte Aussage adäquat auszudrücken. Nichts geriet sensationslüstern oder in der Umkehr Ekel erregend, nie glitt er in die Betroffenheitsattitüde ab. Sehr deutlich, aber dennoch dezent wurden die angesprochenen Hässlichkeiten, die sogenannten „dunklen Seiten“ des menschlichen Daseins, angesprochen, die es zwar wohl immer gegeben haben mag, die aber durch Medien wie das Internet einen nicht mehr kontrollierbaren Weg in jedes Wohnzimmer aller Bevölkerungsschichten finden können, finden.

Del Monaco siedelt seine Figuren im sozialen Absteigermilieu an. Hänsel (beklemmend intensiv und stimmvirtuos dargestellt von Countertenor Denis Lakey, außerdem eine sehr geglückte Idee, die im Original vorgesehene Mezzosopranstimme mit dieser Stimmfarbe zu besetzen) und Gretel (Susanne Serfling) spielen im ersten Akt der Oper vor dem morschen Bauwagen ihrer Eltern im Plastikmüll, saufen, kiffen. Die Mutter (Carola Guber, aus Krankheitsgründen nur szenisch mitwirkend) ist eine heroinabhängige Hure, die vor den Augen ihrer Kinder ihre Freier empfängt. Der Vater (der stimmgewaltige Juan Carlos Mera-Euler): Alkoholiker und durchsetzungsschwach. Peter Umstadt in der Rolle der Hexe tritt als bieder-netter Mann von nebenan auf, dann als Perverser, der im dritten Bild noch kurzzeitig ins Kirchengewand schlüpft, um auf diese Weise seinen seelisch-körperlichen Missbrauch an Hänsel und Gretel brutal zu vollziehen. Susanne Rath fungiert exzellent als Sandmännchen/Taumännchen. Und immer wieder zieht sich das blinkende rote Licht der aktivierten Videokamera durch die Szenen, in denen die Kinder miteinander herumtollen.

Das zweite Bild zeigt das Knusperhäuschen als spießiges Reihenhaus mit kitschiger Weihnachtsdekoration, geschmückten Weihnachtsbäumen, die den ausgehungerten Kindern Leckereien präsentieren. Natürlich fehlt die Satellitenantenne auf dem Dachfirst nicht. Nachdem gegen Ende der Oper die Brutalität ihren Höhepunkt erreicht, der Missetäter aufgehängt wird, verlischt das Licht, setzen sich alle Darsteller nebeneinander vorn an den Bühnenrand, tauschen ihre Kostümierung gegen Bademäntel, schminken sich ab. Nach den letzten Takten der Musik (hochwertig dargeboten unter der Leitung von Karl Prokopetz) gehen sie nach hinten von der Bühne ab: keine Verbeugung, kein weiterer Mitwirkender, der sich noch einmal zeigt. Der Beifall ist kurz und zurückhaltend – im Programmheft wurde darum gebeten, auf jegliche Beifallsbekundungen zu verzichten.

Der Regisseur hat mit der Unterstützung des Ausstatters Peter Sykora ein unvergessliches Opernereignis geschaffen. Seine lange tiefgründige Beschäftigung mit dem Werk erzeugte ganz neue Verbindungen von Bildern mit musikalischen Linien, ergab ganz neue Fassetten, diese so oft gespielte Oper aufzunehmen – ausgefeilt bis ins letzte Detail. Dazu gehörte auch die Einstimmung des Zuschauers im Foyer durch Informationsstände der Erfurter Polizei, von „Unicef“, „Weißer Ring“, „pro familia“, des Kinderschutzbundes und der Bewährungs- und Straffälligenhilfe Thüringen e.V. Die Inszenierung entstand in enger Zusammenarbeit mit Psychologen und Fachleuten. Dem thüringischen Staat gebührt große Anerkennung für die Unterstützung des ungewöhnlichen Theaterprojekts. (gh)


Fotos: © Lutz Edelhoff