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Fakten zur Aufführung 

DER LEUCHTENDE FLUSS
(Johanna Doderer)
31. Oktober 2010 (Uraufführung)

Theater Erfurt


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Erinnerung

Geschichte ist Geschichte der Sieger – solange nicht quasi von unten jener Opfer gedacht wird, durch die überhaupt erst eine Sieger-Geschichte zu schreiben ist. Gedenken an das Leid realer Menschen, deren Schicksal irgendwann einfach vergessen sein würde. An diese „Rückseite“ einer Sieger-Geschichte zu erinnern ist ganz gewiss auch Intention von Johanna Doderer, der Komponistin der Oper Der leuchtende Fluss und ihrem Librettisten Wolfgang Hermann.
Ira Hayes ist die zentrale Figur dieser Oper: ein als Kriegsheld vermarkteter Soldat indianischer Abstammung, der mit 19 Jahren in die Armee und damit in den Zweiten Weltkrieg einzog nur deshalb, weil er sich dadurch einen Ausweg aus seiner trostlosen Existenz erhoffte. Just diese trostlose Existenz war - perfide genug - Folge einer politischen Entscheidung der Mächtigen, den Indianern in ihrem Reservat in Arizona buchstäblich das Wasser und damit ihre Lebensgrundlage abzugraben.
Ira Hayes wird nach Japan abkommandiert und dort eher zufällig zu einem „Helden“, der noch heute auf einer Fotografie zu sehen ist, die damals, Anno 1945 rund um die Welt ging: die gestellte Szene von Soldaten, die amerikanische Flagge über der japanischen Insel Iwo Jima in den Boden rammend.
Das ist der eine Teil der Oper – der zweite beleuchtet die unsägliche Propaganda-Maschinerie der Amerikaner, die aus diesem militärischen (Schein-)Erfolg buchstäblich Kapital schlagen wollen: Ira Hayes als Werbefigur für dringend notwendige Kriegsanleihen. Doch da haben die Generäle und Captains die Rechnung ohne diesen „Helden“ gemacht. Der nämlich ist traumatisiert und erweist sich als Vorzeige-Soldat im Blitzlichtgewitter von Journalisten als völlig untauglich. Kein smarter Winner-Typ, der stolz die Arme gen Himmel reckt. Im Gegenteil: einer, der ganz hautnah den Missbrauch spürt und anklagt, den man mit und an ihm betreibt. Er, der Pima-Indianer, hat seine Herkunft ebenso wenig vergessen wie den tausendfachen Tod seiner Kameraden auf dem Schlachtfeld.
Beides prägt auch die von Peter Sykora gestaltete Opernbühne: ein unbewohnbar gewordenes Indianer-Reservat mit einer übergroßen, rostigen Pipeline, durch die der früher einmal leuchtende Fluss nun gezwängt wird. Dies der Ort, an dem die Ureinwohner nur noch vor sich her vegetieren. Darüber erhebt sich sowohl die Schaltzentrale der militärischen Macht als auch das Schlachtfeld mit toten Soldaten, beides gesäumt von der fünfzehn Mal in Stein gehauenen amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776. Momenthaft sind das ganz eindrucksvolle, von Regisseur Guy Montavon umgesetzte Bilder, etwa auch die im Sekundentakt vom Himmel herab fallenden toten Soldaten. Das alles aber erweist sich bald als ziemlich plakativ. Bilder, die nicht mehr vermögen als ein ebenso plakatives Libretto zu dekorieren. Es könnte das Drehbuch zu einem mediokren History-Kinoschinken sein. Monologe, Dialoge, die die Handlung Schritt für Schritt nacherzählen. Allein: das Kino hat sich schon vor langer Zeit um Ira Hayes und um seine Geschichte gekümmert – mit Tony Curtis in der Hauptrolle in dem Streifen The Outsider von 1961, noch einmal Clint Eastwood in The Flags of our Fathers 2006.
Und die Musik von Johanna Doderer? Erstaunlich (oder ehrlicher: bestürzend), welch ein für die zeitgenössische Oper längst verbraucht geglaubtes musikalisches Vokabular die 1969 in Bregenz geborene Tonsetzerin da über knapp drei Stunden anzubieten hat. Grundsätzlich fühlt sie sich offenbar in der Romantik zuhause, lässt ihren Orchesterklang dann aber auch über weite Strecken modal, sprich: ohne Leitton verströmen. Folkloristische Elemente sind willkommene Würze. Und so klingt es hier und da schon mal ein bisschen „indianisch“. Amerikanisch-imperialistisch dank knackigem Blech sowieso. Dazu gesellen sich Anleihen beim minimalistischen Arvo Pärt, kontrastiert von turbulenten Chören à la Carmina burana. Ein ziemliches Patchwork – und dennoch Eintönigkeit über weite Strecken bis auf wenige Ausnahmen, etwa dort, wo Ira Hayes, längst dem Alkohol verfallen, sich seiner Wurzeln erinnert und der Regie dazu intensive Videoprojektionen einfallen.
Aller Ehren wert ist die musikalische Umsetzung dieser Partitur. Walter E. Gugerbauer animiert das Philharmonische Orchester zu großer lamentohafter Geste ebenso wie zu aufschäumenden Klängen der Revolte gegen die Mächtigen. Dazwischen liegen alle erdenklichen Schattierungen einer Musik, die ohne Umwege die Herzen ihres Publikums erreichen will.
John Bellemer ist Ira Hayes, ein hervorragender Titel-„Held“, der vom ersten Augenblick an Glaubwürdigkeit ausstrahlt – auch stimmlich dank seines kerngesunden Tenors. Marisca Mulder ist May, die Geliebte von Ira Hayes, die Angst um ihn hat und ihn vergebens davon abzuhalten sucht, dem Ruf der Armee zu folgen. Ihre Rolle legt sie mit großer Expressivität an, gleiches gilt für Florian Götz, Mays Bruder, der sich ohne großes Zögern zum Militärdienst entschließt. Befehle zu empfangen und sie (im Idealfall) ordnungsgemäß auszuführen, das ist die Aufgabe von Captain Smith – und genau so agiert Stéphanie Müther mit ihrem gebieterischen Mezzo. Perfekt schlüpft Peter Schöne in die Rolle des Generals Curtis, der für die Propaganda-Kampagne verantwortlich zeichnet: mit vorbildlicher Diktion und traumwandlerisch sicher geführtem Bariton ist er eine Idealbesetzung dieser großen Partie.
Doch auch die kleineren Rollen kann das Theater aus seinem Ensemble bzw. Opernchor heraus sehr angemessen besetzen: da sind Marwan Shamiyeh als Verwundeter und Sebastian Pilgrim in der Doppelrolle als Onkel und Soldat zu nennen, Dario Süß und Franziska Krötenheerdt, Ralph Heiligtag, Jan Rouwen Hendriks, Reinhard Becker und Christoph Dyck. Stimmlich und darstellerisch absolut konzentriert und hoch motiviert. Nicht zu vergessen der solide agierenden Opernchor, den Andreas Ketelhut einstudiert hat.
Dass die Erfurter Theaterleitung eine generelle Aversion gegen Übertitel hat, ist längst bekannt. Und ganz gewiss ist es auch nicht (mehr) notwendig, eine Zauberflöte oder eine Traviata mit dieser grundsätzlich doch höchst segensreichen Erfindung auszustatten – wenngleich es garantiert auch in Erfurt Menschen gibt, die dafür dankbar wären, könnten sie in ihrem eigenen Theater die Gesänge eine Violetta Valéry oder eines Germont auf Deutsch mitverfolgen. Ärgerlich wird es indes, wenn die vorhandene Übertitelanlage sich auf eine Handvoll spärlicher und deshalb überflüssiger Inhaltsangaben beschränkt bei einer Uraufführung, deren (deutschen) Text niemand kennen kann und den zu transportieren – das muss leider deutlich gesagt werden – vom singenden Ensemble außer von Peter Schöne niemand durchweg imstande ist.
Dennoch: das Publikum feiert diese Produktion. Es feiert das Solistenensemble, es feiert Chor und Orchester – und es bejubelt eine Komponistin für eine Musik, die mit all ihrer Betroffenheitsattitüde offensichtlich auf Resonanz stößt.

Christoph Schulte im Walde













 
 
Fotos: Lutz Edelhoff