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Fakten zur Aufführung 

EINE KIRCHE DER ANGST VOR DEM FREMDEN IN MIR
(Christoph Schlingensief)
21. September 2008 (Premiere)

RuhrTriennale
Landschaftspark Duisburg-Nord


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Fluxus – Beklommenheit

Menschlich bewegend, kommunikativ verstörend, theatral aufwühlend, spirituell provozierend: Christoph Schlingensief geht es in seinem „Fluxus-Oratorium“ nicht um globale Kultur-Dissonanzen, nicht um die „Erlösung“, nicht um nationale Ikonen (wie beim Parsifal in Neuhardenberg, dem Parsifal in Bayreuth oder der Jeanne d’Arc in Berlin) – es geht um ihn selbst. Um sein existentielles Leiden an der Krebs-Erkrankung, um die herausgeforderte Selbst-Erkenntnis, um das persönlich empfundene Ausgewähltsein für die Todesnähe, um die sehr intime Auseinandersetzung mit den Ritualen und Tröstungen der Religion, um die Fixierungen auf kindlich-familiäre „Prägungen“.

Dieser beklemmend intensive Prozess der Selbstfindung wird in Fluxus-bestimmter Performance zum dynamisch-gewaltigen Teil des unendlichen Ablaufs von konkret-begriffenem Leben und permanent verfremdender „Kunst“. Die schier unglaubliche Vielfalt von Darstellung, Musik, Gesang schöpft aus einem Fundus unerschöpflicher kreativer Phantasie, dabei immer bestimmt von der eigenen, als archetypisch verstandenen, Identität.

Michael Wertmüller schafft dazu eine Musik-Imagination mit atonalen Klängen des Schlagzeugs, Wagner-Passagen aus dem Sampler, Zitaten aus elegischer Folk-Music und avancierten Variationen der Oratorien-Konvention, erfindet beherrschte und aufschreiende Elemente für diverse Chöre - stellt dabei die musikalische Komponente immer in den Dienst der Schlingensief-Reflexion: Musik als Interpretationshilfe für verbal nicht artikulierbare Gefühle.

Friederike Harmsen und Ulrike Eidinger singen mit intensiv höhenorientierten Stimmen voller empathischer Emotion; der Gospelchor Angels Voices stimuliert bewegende religiöse Empfindungen; der Kinderchor des Aalto-Theaters Essen ist zuständig für die naive Gläubigkeit – die Skepsis gegenüber der scheinbar sicheren Hoffnung wird ergreifend hörbar.

Margit Carstensen und Angela Winkler lesen mit geradezu insistierendem Nachdruck die Schlingensief-Texte aus der tiefsten quälenden Lebensphase, bedrängend in ihrer Redundanz.

Thomas Goerge und Thekla von Mülheim schaffen in der „Kathedrale der Arbeit“ ein reduziertes Abbild von Schlingensiefs vertrauter Oberhausener Kirche mit Altar-Vorhang und liturgischen Elementen.

Heta Multanen schafft die optische Faszination dieses Fluxus-Oratoriums mit Projektionen von Kinder-Filmen des Gepeinigten, mit alten Mikro- und Makro-Bildern im wackelnden Schwarz-Weiß, mit Ausschnitten kaum interpretierbarer Fluxus-Filme, mit der Projektion der lesenden Darstellerinnen, mit verkindlichten Schrifteinblendungen – dies alles im souverän genutzten archaischen Raum mit einer fast irritierenden Fülle von Projektionsflächen.

Auf Kirchenbänken verfolgt ein atemlos gefangen genommenes Publikum die Bilder, Texte und Musiken des „Leidensmannes“, reagiert wie paralysiert auf die musikalische Climax mit Wagners Amfortas-Musik, ist reserviert bei Schlingensiefs eigenem Jesus-Auftritt in der Abendmahls-Szene, ist schier fassungslos bei den spektakulären Chor-Auftritten, bewundert die sprachliche Disziplin der Darsteller – und findet offenbar eine Fülle von ganz persönlichen existentiellen Situationen. „Ich bin kein Stellvertreter“ heißt es im selbstreflektierend-kryptischen Schlingensief-Text: Die spürbare Betroffenheit der Menschen in den stimulierenden Mauern des alten Stahlwerks machen aber deutlich: Hier werden ganz persönliche Leiden subjektiv adaptiert – vielleicht mit der Hoffnung auf eigenen Leidens-Abbau. Die RuhrTriennale jedenfalls hat ihren Höhepunkt erreicht. (frs)