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Fakten zur Aufführung 

Das Gesicht im Spiegel
(Jörg Widmann)
27. März 2010 (Premiere/Erstaufführung der vom Komponisten revidierten Fassung)

Statements Gregor Horres (Bild oben) und Hörbeispiele:

 

Deutsche Oper am Rhein
Düsseldorf


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Über alle Grenzen hinaus

Die Kurse verfallen, das Firmensterben droht auch das Unternehmen von Patrizia und ihrem Partner und Ehemann Bruno zu erfassen, wenn es ihnen nicht rechtzeitig gelingt, ein neues Produkt auf den Markt zu bringen. Mit Hilfe des Bio-Ingenieurs Milton gelingt der Coup: Justine, der erste, zu Gefühlen fähige Klon aus der DNS Patrizias, wird der Öffentlichkeit in einer westdeutschen Metropole vorgestellt. Die Kurse des Unternehmens steigen ins Unvorstellbare – das private Schicksal der vier Protagonisten nimmt seinen dramatischen Lauf.

Wie kann ein Mensch ertragen, seinem Klon gegenüberzutreten, seine Einzigartigkeit zu verlieren? Patrizia, zunächst verblendet vom wirtschaftlichen Erfolg, kann es genauso wenig wie Bruno, der sich in das Ebenbild Patrizias verliebt. Auch Milton, selbstverliebt und weltfremd, nach eigenem Verständnis ein Gott, der Menschen schaffen kann, verfängt sich in dem Geflecht, von dem er am wenigsten versteht – dem Geflecht menschlicher Gefühle. Selbst Justine scheitert, als sie letztlich ihr Gesicht im Spiegel sieht und die Wahrheit erkennt, ein Spiegelbild Patrizias zu sein. Ihr persönliches – wenn man es so nennen kann – Schicksal: Als Klon kann sie nicht sterben, und so bleibt ihr selbst der Freitod versagt.

Ein solchermaßen komplexes Thema verlangt nach einer besonderen Musik. Komponist Jörg Widmann wendet einen Trick an und findet im Dirigenten Axel Kober einen perfekten Verbündeten: Er beginnt mit einer Stretta, die dann immer weiter ausgebremst wird, stellt also die klassischen Regeln auf den Kopf. Auch die Düsseldorfer Symphoniker sehen sich völlig neuen Herausforderungen gegenüber, die sie bravourös meistern. Neben nachgeradezu artistischen Einlagen müssen die Musiker auch außergewöhnliche Instrumente wie Muschelhörner, Spieluhren und Weingläser spielen. So entstehen neue Klangwelten, ungewöhnlich, haarsträubend, bis zur Grenze des Erträglichen Dissonantes, immer aber mitreißend, immer auf den imaginären Punkt, den man sich vorher nicht hätte vorstellen können. Zum ersten Mal erlebt: Musik und Stimmen von Sängerinnen und Sängern wachsen so zusammen, dass ein Unterschied nicht mehr erkennbar ist. Das hat Gänsehaut-Charakter.

Begeistern kann auch der „fünfte Protagonist“, von dem Widmann spricht: der Kinderchor, dargestellt vom Clara-Schumann-Jugendchor. Schwierigste Passagen, vielstimmige Crescendi kommen so selbstverständlich daher, als möchten die Kinder im Alter von 6 bis 16 Jahren den lieben langen Tag nichts anderes üben als diesen einen Auftritt.

Eine Arie voller Inbrunst darzubringen, ist die eine Sache, einen Widmann mit moderner Sprache zu interpretieren, eine andere. James Bobby als Bruno und Stefan Heidemann als Milton glänzen darin, Aussagen wie „Das ist Blut, das brauchst Du zum Leben“ oder „C-C-A-T-T-C-C-A-G-C“ ernsthaft zu interpretieren. Nuanciert und als sei nichts selbstverständlicher, interpretieren Sarah Maria Sun als Patrizia – deren artistische Darbietung mitunter im wahrsten Sinne atemberaubend ist – und Anett Fritsch als Justine die Gefühle zweier Frauen, von denen die eine nicht weiß, was sie eigentlich ist.

Regisseur Gregor Horres hat in Zusammenarbeit mit Jan Bammes ein Bühnenbild kreiert, das auf vielen verschiedenen Ebenen die Handlung auf ein archaisches Geschehen zurückwirft und so die Intensität des Geschehens unterstreicht. Um diese Wirkung zu erreichen, war ein ungeheurer technischer Aufwand erforderlich, vor dem Horres einen ziemlichen Respekt hatte (hören Sie dazu den Audiobeitrag mit Horres auf dieser Seite).

In letzter Konsequenz dann doch zurückhaltend zeigen sich die Kostüme von Yvonne Forster. Während Widmann die „Geburt“ der Justine als nackte Gestalt vorsieht, um die Analogie zum Neugeborenen herzustellen, konzentriert sich Forster auf angehaucht-futuristische, immer aber keusche Bekleidung. Hier wünscht man sich den Mut, der einem Widmann-Musiktheater angemessen ist, insbesondere in der dramatischen Zuspitzung, als Patrizia Justine durch das Wasser schleift. Ein Kompliment bleibt dennoch. Ohne die Kostüme der Statisterie wäre das Musiktheater nur die Hälfte gewesen.

Es dauert einen Moment, ehe man die Großartigkeit des Geschehens begreift, vor allem, weil einige vom Komponisten geforderten Längen mit hörbarem Räuspern und Hüsteln, aber auch Stühlerücken des Publikums quittiert werden. Aber die „Bravo“-Rufe zu Ende des Stücks scheinen zu bestätigen, dass hier alle Beteiligten über ihre Grenzen hinaus gegangen sind, um zu zeigen, dass eine „moderne Oper“ mindestens so viel leisten kann wie das Althergebrachte. Jedenfalls ist davon auszugehen, dass das Publikum nicht nur über das Thema dieses Abends, sondern auch die Aufführung an sich noch lange diskutieren werden.

msz

 










 
Fotos rechts: Hans Jörg Michel