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Fakten zur Aufführung 

DAS TREFFEN IN TELGTE
(Eckehard Mayer)
6. März 2005 (Uraufführung)

Theater Dortmund

Points of Honor                      

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"Das Treffen in Dortmund"

 

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Kommunikationsstörungen

Günter Grass lässt im „Treffen in Telgte“ die Parallelität des fiktiven Barockdichtertreffens anno 1648 mit den Treffen der Gruppe 47 dichterische Wahrheit werden. Wolfgang Willaschek erarbeitet ein detailversessenes Libretto, versucht allen Verästelungen des Großmeisters barocker Erzähl- und Andeutungsleidenschaft gerecht zu werden – Kommunikationsstörung I. Eckehard Mayer komponiert dazu eine Musik in der Tradition Kranichsteiner Experimentalisten, gerät nur selten in die Versuchung, Musik sinnlich erfahrbar werden zu lassen – Kommunikationsstörung II – und schafft sängerisches Sprechgesangmaterial für dreieinhalb Stunden oktavenübergreifender Artikulation mit hysterischen Schreien – Kommunikationsstörung III – und offenbar kompositorisch vorgegebener Text-Unverständlichkeit – Kommunikationsstörung IV – ohne dass es als Hilfe für die Zuschauer (und –hörer!) Übertitel gibt – Kommunikationsstörung V.

Das mag als selbstreferentielle Ironie verstanden werden, würde aber das Selbstverständnis der Opernkommunikation eindeutig missachten – Kommunikationsstörung VI – und ist wohl in Libretto und Partitur als Abbildung der Grassschen komplexen Welt-Erklärung zu akzeptieren – Kommunikationsstörung VII. Eine Fülle historischer und aktueller Phänomene geraten in den Prozess des information overkill: Die Barockdichter in ihrer historischen Situation, die Gruppe 47 in ihren Konflikten nebst eingefügter Antisemitismus-Dimension, dazu Verweise zeithistorische Politik (Adenauer, Christiansen-Runde, Benno Ohnesorg) – Kommunikationsstörung VIII.

Christine Mielitz inszeniert das Miteinander-Gegeneinander der Literaten als nun tatsächlich bühnenrelevante Kommunikationsstörung (IX): ein Tohuwabohu streitsüchtiger Egomanen verliert im hektischen Streit um die Wahrheit des Wortes die Contenance, flüchtet in Sex (die offenbar Freud trivialisierende Manie lässt den Schluss zu, dass der Trieb die Moral bestimmt – Kommunikationsstörung X) und verneint durch hemmungslose Bumserer die erlebte Kommunikationsstörung XI zu kompensieren. Dennoch: die intensiv-eingreifende und handlungsstiftende Regie beweist die Möglichkeiten eines aktionsreichen Theaters, schafft Betroffenheiten und weckt Emotionen bei den Zuschauern.

Christian Flörens Bühne auf dem Deckel des Orchestergrabens mit einem Kirchentrümmer-Torso wie eine Grass-Grafik, einer weiten Spielfläche auf der ungemein tiefen und breiten Dortmunder Bühne mit dem Orchester in der auffahrenden Versenkung lässt viel Bühnenkonstruktion zu (keine Störung!). Doch geben die projizierten Grpßfotos von Kriegssituationen und überwiegend verzerrten Politikerikonen Anlass zur Frage, ob denn außer den maladen Dichtern nur „die Politiker“ das historische Desaster zu verantworten haben – Kommunikationsstörung XII.

Arthur Fagen beweist mit den hochkonzentrierten Solisten der Dortmunder Philharmoniker die stupende Qualität des Orchesters: die pointierten Einzeltöne kommen absolut präzis, die aufbrausenden Tutti sind Musterbeispiele für intensiv erarbeitetes professionelles Zusammenspiel – totales Engagement am hoffnungslosen Objekt, wenn man so will: Kommunikationsstörung XIII.

Im Ensemble wird allein Werner von Mechelen die Chance gegeben, seine Texte als Simon Dach bzw. Hans Werner Richter verständlich zu vermitteln. Die Rollen der übrigen Dichter bleiben im Dunkel – Kommunikationsstörung XIV – und lassen die Charaktere als abstoßend erscheinen. Doch ist der Kampf mit den extremen Anforderungen der „Stacheldrahtmusik“ absolut bewundernswert. Dass der Komponist dem als praeceptor musical auftauchenden Heinrich Schütz die Qual des unmenschlichen „Singens“ erspart (Hannes Brock spricht ihn), ist ein unerwarteter Anfall von Respekt für das musikalische Erbe (keine Kommunikationsstörung!)

Das Dortmunder Premierenpublikum ist offenbar starr vor Bewunderung für den großen Günter Grass, obwohl der für die Oper ja „nur“ die Vorlage lieferte (so wie Schiller für Verdis Don Carlos oder Shakespeare für Verdis Otello) – Kommunikationsstörung XV. Große Teile des bildungsbürgerlich kritikunfähigen Publikums vermissen nicht die Maximen des aktuellen Musiktheaters („Kraftwerk der Gefühle“, „der singende Mensch“, „Ausdruck von Seelenkräften mittels Gesang“) und sind nicht in der Lage, ihrem Nicht-Verstehen Ausdruck zu verleihen: nur wenige, aber ungemein leidenschaftliche Buhs für den Komponisten – Kommunikationsstörung XVI – aber lang anhaltender Applaus für Sänger, Orchester und Regieteam (keine Kommunikationsstörung).

Bilanz der Kommunikationsstörungen: Nur die Nr. IX ist tatsächlich theatral gewollt und provoziert existentielle Fragen. Alle anderen belegen das grandios gescheiterte Missverständnis aktuellen Musiktheaters. (frs)

P.S. Es gilt auch hier: Die „Points of honor“ geben nur die eingeschätzte Qualität der aktuellen Leistungen wider, nicht die Qualität der Vorlage.


Fotos: © Theater Dortmund