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VERLOREN IN DER FREIHEIT
Lebensgefühle in einer Metropole,
die Verworrenheit in unbegriffener Freiheit, das Ausnutzen von Menschen
durch Menschen; diese topoi der Zeitenwende hat Gustave Charpentier in
zwei Opern um die Jahrhundertwende in Paris realisiert. John Dew hat sich
dieser vergessenen Werke erinnert, sie - nostalgisch - in die 70er Jahre
verlegt, und präsentiert in der Endphase seiner Dortmunder Zeit einen
aufwendigen Doppelabend mit enormem Effekt. In der "Louise" geht es um
die Liebe zum aufstrebenden Dichter Julien und die qualvolle Ablösung
der jungen Frau aus ihrer engen familiären Situation - doch deutet sich
die hoffnungslose Situation der ausgenutzten "Muse" an, die im "Julien"
tragisch endet. Der nach Freiheit strebende, rauschhafte Julien scheitert
im "Zirkus de Ideale" verzweifelt orientierungslos.
Dew gelingt eine faszinierende Mischung von realistischen Milieustudien,
exotischen Sequenzen und ekstatischen Einzelporträts, unterstützt von
einem ebenso phantasiereichen wie interpretierendem Bühnenbild Thomas
Grubers mit den farblich imaginativen Kostümen von Jose-Manuel-Vasquez
- eine ästhetische Show von höchstem Reiz!
Diese optische Vielfalt korrespondiert mit Charpentiers musikalischer
Sprache: in der "Louise" (uraufgeführt 1900) noch eher impressionistisch
verhalten, im "Julien" (1913) von einer Expressivität, die an die Ausbrüche
Richard Strauss' gereicht. Axel Kober animiert das Philharmonische Orchester
Dortmund zu elegischen Klängen, zu gewaltigen Klang-Eruptionen und begleitet
sowohl die Handlungen als auch die inneren Erschütterungen der Solisten.
Barbara Dobrzanska spielt die zwischen freier Liebe und tradiertem Familienzwang
hin- und hergerissene Louise anrührend, verkörpert die Verweise auf den
Zusammenhang Kunst-Emanzipation in aller Gebrochenheit und singt die schwierige
Partie äußerst souverän, die Gelegenheiten zu lang fließenden Kantilenen
stimmschön auskostend. Als Julien hat Norbert Schmittberg eine "Mono-Oper"
zu bewältigen, die seinem hellen, nuancenreichen Tenor alles abverlangt.
Er besteht die Herausforderung mit Bravour, so wie das gesamte Ensemble
und der präsente Chor die vielfältigen Farben der facettenreichen Musik
Charpentiers virtuos bewältigen.
Nach der musikalisch langatmigen "Louise" faszinierte der missachtete
"Julien" ein enthusiasmiertes Premierenpublikum: dieser eruptive Monolog
mit seinem "Oh Mensch!-Pathos" wird sicherlich nicht zum letzten Mal seine
Anhänger gefunden haben - und diese geniale Arbeit Dews wird im opernfreien
Dortmund einen langen Schatten werfen. (frs)
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