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Fakten zur Aufführung 

ARMIDA - EIN OPERNPASTICCIO
(nach Georg Friedrich Händel)
5. Juni 2009

Festival KLANGVOKAL
Konzerthaus Dortmund


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Begegnung der Kulturen

Das Festival KLANGVOKAL präsentiert eine Oper namens Armida, die es überhaupt gar nicht gibt – und erzielt einen Erfolg, der mit dem Begriff „sensationell“ noch sehr untertrieben bewertet ist. Das Publikum im Dortmunder Konzerthaus hielt es vor Begeisterung kaum auf den Sitzplätzen.

Armida – das ist eine faszinierende Collage, in der sich zwei verschiedene Kulturen begegnen: die westeuropäische und die arabische, oder genauer: die osmanische. Georg Friedrich Händels Musik steht für die Blütezeit des europäischen Barock, Gesänge von Zeki Mehmet Aga, Ismael Hakki Bey oder Dede Efendi vertreten den großen, reichen Schatz an Musik, der über Jahrhunderte in der Türkei gewachsen ist und dort bis heute gepflegt wird. In Armida trifft West auf Ost – überaus intensiv, überaus dicht. Mehmet Cemal Yesilcay und Werner Ehrhardt haben „ein interkulturelles Opernpasticcio“ – so der Untertitel dieses Armida-Projekts – zusammengestellt, ja geradezu genial zusammenkomponiert, das vor allem eines weckt: Emotionen! Und dies auf eine kaum zu beschreibende, ergreifende Weise.

Im Zentrum steht die Liebesgeschichte zwischen Armida, der Tochter eines Derwisches, und Rinaldo, der sich den Kreuzrittern angeschlossen und Jerusalem „von den Unheiligen“ befreien will. Armida und Rinaldo – natürlich hassen sich die beiden zuerst. Doch das Ende ist absehbar: sie finden zueinander, beim Happy End sind Orient und Okzident friedlich miteinander vereint. Das ist nicht gerade spektakulär für eine Oper. Spektakulär jedoch ist, wie dies hier musikalisch in Szene gesetzt wird. Ehrhardt und Yesilcay verschränken die so verschiedenen Klangwelten miteinander, lassen ihnen aber je ihre Eigenheit: hier große Expressivität durch Affekte, Rhetorik, virtuose Stimmführung, wie Händel sie in seinen großen Opern Serse, Rinaldo, Agrippina, Giulio Cesare und Alcina handhabt (aus diesen Werken stammt das musikalische Pasticcio-Material); dort ein riesiger, für ungeübte westliche Ohren anfangs sicher gewöhnungsbedürftiger Kosmos aus Klängen, die ihren Reichtum aus der Fülle an Mikrointervallen schöpfen – oder in ihrer minimalistischen Manier fast wie Litaneien wirken.
Das für uns klanglich Fremde, Andere verkörpert der Derwisch, Armidas Vater. Er singt seine Überzeugung, dass „der Gerechte das Böse zum Guten wenden“ wird, zu den Klängen des Ney (der Rohrflöte), der Kemençe (der Geige), des Kanun (der Zither) und anderen traditionellen türkischen Instrumenten. Ein schillerndes Farbspektrum breitet sich da aus – und Ahmet Özhan lässt seinen urwüchsigen, glaubwürdigen, überzeugenden Tenor fließen. Florin Cesar Ouatu ist sein künftiger Schwiegersohn, der Ritter Rinaldo – ein Countertenor, dessen Name bislang noch nicht zu den ganz Großen gezählt wird, stimmlich aber längst dorthin gehört! Eine Wucht, was dieser junge Rumäne an vokalen Funken schlägt, in Händels „Venti turbini“ beispielsweise. Balsamisch flutet sein „Ombra mai fu“, quecksilbrig schwirren seine aberwitzigen Koloraturen in „Crude furie“.

Aber wirklich fassungslos macht an diesem Abend Simone Kermes als Armida. Vom ersten Ton an („Augeletti“ aus Rinaldo) nimmt sie mit ihrem betörenden Sopran ihr Publikum gefangen. Eine suggestive Kraft geht von dieser Sängerin aus, dank der die „Furie terribile“ (ebenfalls aus Rinaldo) ihre wirklich horrende Wirkung entfalten. Sie ist eine grenzenlos Trauernde, die ihr Schicksal (mit „Piangerò“ aus Giulio Cesare) auf eine Weise beklagt, dass jeder im Publikum eine Gänsehaut bekommt. Und sie verkörpert die am Boden zerstörte Liebende, als sie (mit „Se pietà“) ihrem Schmerz freien Lauf lässt, weil ihr Rinaldo (vermeintlich) zurück muss in den verabscheuten Krieg. Weiß diese Sängerin, weiß Simone Kermes eigentlich, was sie in solchen unvergleichlichen Augenblicken anrichtet mit ihrem Publikum? Hektoliter an Tränen sind da geflossen – wenn nicht real, dann auf jeden Fall in der Vorstellung jedes einzelnen Menschen, der da im Konzerthaus saß und mit unersättlichen Ohren die zutiefst menschlichen Regungen der Armida in sich aufsog. Phänomenal diese Stimme, die oftmals wie aus dem Nichts zu kommen scheint, sich zu intensivstem Ausdruck aufschwingt – und wieder im Nichts verschwindet.

Ganz fabelhaft sind die beiden instrumentalen Partner dieser Produktion: das von Werner Ehrhardt gegründete Ensemble L’Arte del mondo und das seit 15 Jahren zusammen spielende Pera-Ensemble unter Federführung von Mehmet Cemal Yesilcay. Auch hier gelingt die gegenseitige Durchdringung der beiden Klangwelten, wenn etwa Händels „Traummusik“ (aus Alcina) geheimnisvoll eingeleitet wird von orientalischen Zither- und Flötenklängen, wenn das „Ombra mai fu“ gewürzt wird von den Glissandi des Ney – und wenn Ahmed Özhan sein unverwechselbares Timbre einbringt in Händels Arie „Nel tuo seno“.
Am Ende heißt es: „Ein Gott, eine Liebe!“, die drei Solisten vereinen sich im fröhlichen, temperamentvollen Loblied.

Im Publikum finden sich die beiden Welten wieder: junge, mittelalte und ältere türkischstämmige Menschen lauschen höchst konzentriert und identifizieren sich mit ihren kulturellen Wurzeln; dem „durchschnittlichen“ deutschen Konzertbesucher öffnen sich völlig neue Klangdimensionen, die die eigene Tradition bereichern.

Aber auch dies: zu Beginn der Pause weist ein „normaler“ Konzertbesucher einen jungen Türken harsch darauf hin, das Fotografieren im Konzertsaal sei strikt verboten! Um Himmels willen: der Mann hat nichts begriffen. Besser, er hätte sich wie viele andere darüber gefreut, jemanden unter den Zuhörern zu wissen, der bestimmt nicht zum Stammpublikum des Konzerthauses gehört, es womöglich zum ersten Mal besucht hat – und dann diese Art von Abfuhr erfahren muss.

Christoph Schulte im Walde