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Fakten zur Aufführung 

MARQUIS DE SADE
(Gregor Seyffert Compagnie Dessau)
2. Juni 2007
(Uraufführung: 2.6.06)

Gregor Seyffert Compagnie
Historisches Kraftwerk Vockerode

Points of Honor                      

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Ohne Maß und Ziel

Das Cross-Genre-Aktionstheater der Gregor Seyffert Compagnie Dessau im historischen Kraftwerk Vockerode ist ein Spektakel der Superlative. 75 Darsteller in drei Akten an verschiedenen Spielorten sowie 200 Mitwirkende, davon allein 90 Mitarbeiter für die Technik, beleben das 1994 stillgelegte Braunkohlekraftwerk mit beträchtlichem Aufwand und einer ganz beachtlichen Tanztheatershow. Auf einer Gesamtfläche von 24.000 qm müssen die Besucher 1,4 Kilometer Weg zurücklegen, bei denen 42 Höhenmeter zu überwinden sind. Schwindelfreiheit hilft!

An jedem Wochenende bis zum September gibt die Gregor Seyffert Compagnie Dessau hier täglich drei Vorstellungen, die zeitlich parallel laufen, d.h. wenn die erste Gruppe den Anfangsspielort verlässt, folgt dort die nächste nach, so dass schließlich alle drei Orte gleichzeitig bespielt werden (wobei es aufgrund der Dimension des Kraftwerks kaum zu akustischen Überlagerungen kommt). Und man sinniert darüber, wie es Kammertänzer Gregor Seyffert rein logistisch möglich ist, in allen Akten der drei Gruppen simultan zu tanzen. Das Spektakel ist eine Wiederaufnahme vom 1. Internationalen Tanzfest Dessau 2006, wo die extrem aufwändige Produktion mit 5000 Besuchern schon sehr erfolgreich gelaufen ist - trotz der stolzen Eintrittspreise (für eine Karte muss man immerhin 47 Euro hinlegen). Die Eventkultur boomt und das industrielle Ambiente hat schon einen ganz speziellen Charme.

Erzählt wird die Geschichte des berühmt-berüchtigten Marquis de Sade, der aufgrund seiner Ausschweifungen und deren literarischer Beschreibungen ein gutes Drittel seines Lebens im Gefängnis verbrachte. „Gebieterisch, jährzornig, ohne Maß und Ziel, in den Sitten von einer wirren Phantasie, die nicht ihresgleichen hat, Atheist bis zum Fanatismus, kurz gesagt, so bin ich, und noch einmal, tötet mich oder nehmt mich so, wie ich bin, denn ich werde mich nicht ändern“ – so charakterisierte der Marquis sich selbst. Motive aus seinem Leben und Werk werden von Choreograph Gregor Seyffert tänzerisch verarbeitet, wobei der adelige Libertin jeweils durch zwei Figuren vertreten ist, die dualistisch das Gute und das Böse verkörpern. Zunächst lärmend und brutal, dann erotisch-lasziv und zum Schluss ziemlich verworren und ans Lächerliche grenzend. Der Soundtrack bewegt sich von Gregorianik, Barockmusik, rein perkussiver Musik über Punkrock und elektronische Musik bis hin zu der unsäglichen Requiemvertonung im letzten Teil.

Das mit 38 Meter Höhe überaus imposante Kesselhaus ist der vertikal bespielte Schauplatz des 1. Aktes. Der Marquis wird kopfüber von der Decke abgeseilt (gedankt sei dem Team vom Kletterzentrum Dessau!), seine Lebensgeschichte von hinten aufgerollt. Ein komplett vergitterter Käfig dient als Gefängnis, wo de Sade wie ein wildes Tier herumspringt (der historische Marquis beendete sein Leben in der Irrenanstalt), aber auch zwei ausdrucksstarke Pas de deux mit den Geliebten vollführt, während er seine perversen Fantasien zu Papier bringt. Eine schonungslos brutale Klangkulisse und Tänzer in Lack und Leder erfüllen die S&M-Erwartungen, Bücher werden in die Flammen geworfen und ein fiktives Gespräch des Gefangenen mit König Louis XVI., dem Papst, Robespierre und später Napoleon entlarvt die Heuchelei der tyrannischen Willkürherrscher, wenn es um die Verteufelung des Gewalt in den sexuellen Fantasien des Marquis geht. Die Realität der Französischen Revolution und ihrer Folgen übertrifft selbst die gewalttätigsten Fantasien.

Der 2. Akt bildet einen angenehm intimen Kontrast, hier dominiert der ästhetische Tanz. Die lustvolle Juliette und die weinerliche Justine, beides Romanfiguren de Sades, geben sich dem Opfer-Täter-Rollenspiel hin und de Sades tugendhafte Ehefrau kommt mit den drei gemeinsamen Kindern zu Besuch. Das große Finale findet schließlich in der ehemaligen Maschinenhalle statt und ist der schwächste Teil. Die versuchte psychologische Deutung von de Sades Kindheit gerät zur wilden Mischung von pädophilen Klerikern, multiplen Marquis im Erwachsenen- und Kindesalter und einer nymphomanischen Mutter, in deren riesigen Unterbau der kleine Marquis am Ende einsteigt, um seine eigene Geburt darzustellen.

Seyfferts Marquis de Sade lebt von der Kulisse des Kraftwerks und den teils beachtlichen Effekten, es wird schön getanzt, gewollt schockiert und opulent bebildert - ein nicht alltägliches Erlebnis ist es allemal! (kaki)

Weitere Aufführungen: 24. Mai bis 29. Juli 2007 jeweils Freitag, Samstag und Sonntag um 18 Uhr, 19 Uhr und 20 Uhr