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Fakten zur Aufführung 

LOVE AND OTHER DEMONS
(Peter Eötvös)
4. April 2009 (Dernière)

Theater Chemnitz


Points of Honor                      

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Absolutes Musik-Theater

Es ist ein Abend des Staunens:

Staunen über Menschen mit „Suche Karte“-Schildern vor dem Haus;
Staunen über eine emotional-differenzierte Geschichte von Gabriel Garcia Marquez;
Staunen über eine kolumbianisch akzentuierte Simultan-Bühne;
Staunen über ein hinreißendes „Bühnenhandeln“;
Staunen über eine imaginierende Musik, die weitab aller gängigen Konventionen extreme Emotionen vermittelt;
Staunen über ein hingebungsvoll aufnahmebereites Publikum;
Staunen über die „Risiko-Bereitschaft“ des Chemnitzer Theaters!

Es geht um Exorzismus, aber auch um existenzielle Lebensgefühle, um afrikanische Mythen, um zivilisatorische Antagonismen – aber auch um blutvolles Leben, um tiefe Gläubigkeit, um religiösen Wahn, um fanatische Teufelsaustreibung. Die pubertäre Sierva wird als „besessen“ erklärt und Opfer klerikaler Rituale – aber nicht nur sie wird in kindlicher Sehnsucht nach Liebe zerstört, auch der so hin und her geworfene Pater Delaura scheitert am Konflikt von Glaubenssätzen und elementaren Gefühlen (wird nicht als Päderast diffamiert), die Äbtissin Josefa verzweifelt an ihrer Aufgabe – allein der inquisitorische Bischof verharrt in klerikaler Selbstherrlichkeit. Dominga, als Haushälterin zwischen den Kulturen, bleibt das erschütternd-hoffnungslose Resumée.

Peter Eötvös komponiert eine filigrane Musik, „modern“ in irritierenden Harmonien, rhythmisch bestimmt, und emotionalisierend im klanglichen Duktus – geradezu genial instrumentiert mit den Möglichkeiten der Instrumentengruppen für expressives Spiel. Töne im Dienst der so komplex-verschlüsselten Botschaft – wenn man so will: hoch artifizielle „Filmmusik“ mit stimulierender Wirkung!

Frank Beermann vermittelt mit der flexiblen Robert-Schumann-Philharmonie einen hochdifferenzierten Klang – fast subversiv in geheimnisvollen Piani, geradezu revolutionär in den dramatisierenden Crescendi - immer transparent und auf gleicher Höhe mit dem vielschichtigen Geschehen auf der Bühne – „moderne“ Musik wird zur Interpretation archetypischer individuell erlittener „Geschichte“.

Dieter Richter stellt vier simultane Räume auf die große Bühne – Siervas offenbar ungeliebtes „Heim“, in der ersten Etage einen bedrängenden „Repräsentationssalon“, einen episkopalen Beratungssaal, und einen Freiraum für die naturreligiösen Zeremonien – dazu Einbeziehung der Portal-Logen als Orte eingreifender Aktionen und ein variabler transparenter Vorhang mit einem stimulierenden Großfoto einer ins Unendliche führenden Straßen-Wüste. Es entstehen Kommunikationsräume mit intensiver Kraft!

Dietrich Hilsdorf inszeniert ein nahezu apokalyptisches Spiel als elementare Konfrontation von lebenshungriger Naturreligion, starrer Inquisitions-Ideologie – dazwischen die naiv gläubigen Nonnen, der emotional empfindende Pater Delaura, der affirmative Vater Ygnacio - und die unbefangen-kindliche Sierva. Hilsdorf schafft atemraubende Konstellationen - charakterisiert total kommunikationsunfähige „Autisten“ in ihrer normenbezogenen Unbedingtheit. Und entwickelt ein permanent konfliktbezogenes „Bühnenhandeln“ – mit Gewalt, Selbst-Entäußerung, kollektiver Hysterie und verzweifelter Wehrlosigkeit.

Julia Bauer vermag die unbeschreibliche Leidensgeschichte der Sierva mit intensivster Körpersprache umzusetzen, artikuliert die leidenden und aggressiven stimmlichen Anforderungen mit hellen Schreien, extremen Höhen, mörderischen Registerwechseln und klagenden Lauten mit fantastischer Konsequenz – gibt sich total aus, und vermittelt die Ambivalenz von esoterischem Wahn und von Dämonen gesteuerter Aggressivität mit totalem Einsatz. Renatus Mészár ist ein gnadenlos-ideologisierter Bischof – mit knallhartem Bass-Beriton! Andreas Kindschuh gibt den menschlicher Regungen fähiger beauftragten Exorzisten, agiert höchst emotional und singt mit attraktiver Agilität. Monika Straube ist die unbegriffene Vollzieherin der Einkerkerung Siervas, verzweifelt an den unmenschlichen Foltern – und beeindruckt mit phänomenalen Brüchen zwischen interpretierendem Sprechgesang und exaltierten hohen Tönen. Tiina Penttinen gibt der ergeben-kommentierenden Haushälterin Dominga – zwischen den religiösen Kulturen – ergreifende Figur, singt die anspruchsvollen Eötvös-Töne mit hinreißender Klarheit. Hugo Mallet ist der affirmative Ygnacio mit kongenialer Artikulations-Kunst. Das Chemnitzer Ensemble demonstriert perfekt-darstellungskompetentes Spiel – und beweist außerordentliche Kompetenz in der stimmlichen Realisierung exaltierter Herausforderungen!

Von nah und fern reist ein nahezu innovationssüchtiges Publikum nach Chemnitz, erlebt einen Musiktheater-Abend von nahezu epochaler Bedeutung – aber auch die Chemnitzer akzeptieren das so ungewöhnliche Ereignis (auch wenn vielen die klassen-übertreffende Präsention im Vergleich mit der Glyndebourne-Premiere nicht bekannt ist). Chemnitz – und Musiktheater-Deutschland - hat einen neuen Mythos! (frs)

Am 3. Mai gibt es eine zusätzliche Aufführung.