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Fakten zur Aufführung 

SEMELE
(Georg Friedrich Händel)
20. September 2009
(Premiere: 8. September 2009)

La Monnaie/De Munt Brüssel


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West meets East

Was Oper sein kann, erlebt man zur Zeit an der belgischen Nationaloper, ein Engagement ganz seltenen Ausmaßes mit einer Breitenwirkung in den öffentlichen Raum hinein mit einem Werk, das nicht gerade zu den Rennern des Repertoires zählt: Georg Friedrich Händels unentschieden zwischen Oper und Oratorium changierender Semele. Die Monnaie-Oper versteht sich konzeptuell als Ort des Austausches, als Versuchsfeld, als Stätte der Reflexion über Kunst, den Menschen und seine Zeit - eine Zielvorgabe, die gerade die aktuelle Semele-Produktion ganz besonders erfüllt. Fester Bestandteil dieses Experimentierfeldes ist die regelmäßige Kooperation mit bildenden Künstlern, sei es mit Zhang Huan oder William Kentridge als Regisseuren oder mit Olafur Eliasson oder Anish Kapoor als Bühnenplastikern.

Nähert man sich momentan dem Brüsseler Opernhaus, trifft man auf der Place de la Monnaie (bis zum 4. Oktober 2009) eine riesengroße Monumentalplastik: den Dreifüssigen Buddha aus Bronze des chinesischen Zeichners, Performers und Bildhauers Zhang Huan. Zhang Huan, der mit der Semele-Produktion sein Debut als Opernregisseur gibt, ist einer der avanciertesten zeitgenössischen chinesischen Künstler. Er verfügt mit einem 7500 Quadratmeter großen Atelier und rund 100 Assistenten in Schanghai locker über die Produktionskapazitäten für Werke dieser Größe. Die Passage um oder durch den Dreifüssigen Buddha, mit einem leichten Geruch von Räucherwerk umgeben, ins Opernhaus markiert den ersten so verblüffenden wie irritierenden Schritt zu einem Wechsel der Sphären.

Das bestens aufgelegte Barockorchester Les Talens Lyriques unter der engagierten und inspirierten Leitung von Christophe Rousset setzt mit der ausgedehnten Ouvertüre gleich einen hohen Standard: federnd, nuanciert, klar, beredsam und spannend startet es in einen ungewöhnlichen Opernabend. Denn zugleich: Film ab! Die Ouvertüre wird zur Filmmusik für einen Schwarz-weiß-Dokumentarfilm mit englischen Untertiteln über einen 450 Jahre alten Ming-Tempel aus dem Grenzgebiet der chinesischen Provinzen von Zhejiang und Anhui unweit von Schanghai. Eingemauert und umgenutzt überdauerte er die Jahre und behauste zuletzt die Familie Fang. Doch die religiöse Genese der Wohnung konnte es nicht verhindern, dass es zu einem doppelt tödlichen, zutiefst weltlichen Ehedrama kam. Herr Fang wurde von einer krankhaften Eifersucht gequält, argwöhnte außereheliche Abenteuer seiner Frau – die das Opernplakat der Semele ziert – und exaltierte in alkoholisierten Gewaltexzessen, bis ihm ein Erschießungskommando das Leben nahm, nachdem er den vermeintlichen Liebhaber seiner Frau umbringen ließ. Liebe, Verachtung, Eifersucht, Ohnmacht, Selbstüberhebung – Ingredienzen auch des Semele-Stoffs. Die Witwe war des Wohnsitzes überdrüssig und bot ihn zum Verkauf an. Zhang Huan griff zu: wir sehen bei der Demontage des Bauwerkes zu, nehmen wahr, wie die einzelnen Elemente in Zhang Huans Atelier in Schanghai gebracht, dort instand gesetzt und aufgebaut werden und – die Ouvertüre ist beendet und der Vorgang öffnet sich – wir sehen den Originaltempel als 'Tempel der Juno' auf der Bühne der Monnaie-Oper. Ein veritabler coup de théâtre, der die Überraschungsmomente der Barockoper mit den technischen Möglichkeiten des globalisierten 21. Jahrhunderts überbietet.

Der Tempel fügt sich von den Proportionen und von der Atmosphäre bestens in die Inszenierung. Auch die übrige Ausstattung folgt konsequent der chinesischen Genese wie die keinen Aufwand scheuenden, europäische Historie mit chinesischer Tradition verbindenden Kostüme der in New York und Schanghai arbeitenden Stilistin Han Feng. Zhang Huan erstellt das Bühnenbild mit viel Liebe zum Detail und zur Perfektion mit Elementen der barocken Ausstattungsoper im chinesischen Stil. Selbst ein Handlungsballett zweier chinesischer Sumoringer fehlt nicht. Lebhaft agierende Tierfiguren wie ein von zwei Menschen angetriebener Esel als Symbol für eine chinesische ländliche Hochzeit und ein weißer – Symbolfarbe für den Tod – Drache bevölkern das Ambiente. Wolfgang Göbbels Lichtgestaltung sorgt für eine enorm stimmungs- und wirkungsvolle, fast magische Ausleuchtung. Gewagt - und geglückt – sind drei enorme Eingriffe in den musikalische Ablauf: Nach dem Freudenchor am Ende des ersten Aktes – „Endless pleasure, endless love, Semele enjoys above!“ - erklingt ein berückend intensives Solo der mongolischen Sängerin Aruhan, ein Stück alter Musik aus der inneren Mongolei, dass sich, so verblüffend es auch erscheint, gut integriert. In der verlängerten Pause nach dem zweiten Akt zelebrieren Aruhan und ihr vierköpfiges Ensemble mit traditionellen Instrumenten unter Zhang Huans Dreifüssigem Buddha open air und für alle zugänglich eine mongolische Fassung der Semele. Der dritte gravierende Eingriff erfolgt am Ende des Werkes. Nach Semeles Tod – Jupiter erscheint als todbringender Drache – summt der Chor, still und leise, auch ein Lied wie aus ganz alter Zeit: die Internationale, während Arbeiter einen roten Sarg von der Bühne tragen. Der triumphale Schlusschor „Happy, happy shall we be, free vom care, from sorrow free, guiltless pleasure we'll enjoy...“ entfällt. Zhang Huan verweigert nach dem Tod der Semele ein Happy End, die Inszenierung endet im Auditorium sehr stark emotional und bewegend mit einer filmischen Projektion eines Aschebildes von Semele: Ihr Antlitz löscht sich langsam verwischend aus.

Doch dann, nach der ersten Erschütterung, dem großen, überwältigenden Beifall und den vielen Ovationen ertönt er dann doch beim Verlassen des Opernhauses aus allen Ritzen des Gebäudes – in allen Foyers, Treppenhäusern, Garderoben, Toiletten... und aus Zhang Huans Dreifüssigem Buddha: „Happy, happy shall we be, free vom care, from sorrow free....“

Die Besetzung ist durchweg herausragend. Semele ist die phänomenale, extrem koloratursichere Ying Huang, Chinesin mit Wohnsitz in den USA und selten zu hören in Europa. Sie spielt die Semele sehr selbstverliebt, - „Myself shall I adore“ -, distanziert, innerlich, konsequent vom Willen zur Vergöttlichung, vom Übergang vom menschlichen zum Göttlichen angetrieben. In der Doppelrolle von Juno und Semeles Schwester Ino: Ning Liang. Eine Entdeckung: die Iris der Sarah Tynan. Jeremy Overden ist ein verführerischer Jupiter, Kurt Gysen ein imposanter Somnus. David Hansen als Athamas und Nathan Berg als König von Theben und Priester vervollständigen das Ensemble. Nicht zu vergessen: der Chor unter der musikalischen Leitung von Piers Maxim und der mal statisch oratorienhaften, mal agil opernhaften Choreografie von Su Jie. Nach dem Brüsseler Zyklus wandert die Inszenierung nach Peking und Schanghai. Eine Übernahme zu den Edinburger Festspielen 2011 ist im Gespräch.

Dirk Ufermann

 








 
Fotos: © Forster