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Fakten zur Aufführung 

PELLEAS ET MELISANDE
(Claude Debussy)
14. September 2008
(Premiere: 4. September 2008)

La Monnaie/De Munt Brüssel


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Die kahle Sängerin

Debussys 'Pelléas' ist ein rätselhaftes und hermetisches Werk. Symbolistischen Ursprungs, bleibt vieles im Zweideutigen und Offenen: Woher kommen die Personen, was haben sie für eine Geschichte, wie ist ihr Beziehungsgeflecht untereinander strukturiert, wie sind ihre Handlungen motiviert, was ist überhaupt los auf Schloss Allemond, was Ursache der mysteriösen Stimmung, der Atmosphäre von Gefahr, Bedrückung und Untergang? Die Brüsseler Neuproduktion in der Regie von Pierre Audi, seit 1988 Künstlerischer Leiter der De Nederlands Opera in Amsterdam, gibt darauf keine klaren Antworten, sondern vervielfacht die Rätsel des Stückes mit unerwarteten und atypischen Perspektiven.

Das liegt zuerst am Setting. Ort der Produktion ist ein großes rotes Gebilde des britischen Bildhauers indischer Abstammung Anish Kapoor. Kapoor ist international bekannt geworden durch grellfarbige großdimensionierte Monumentalskulpturen. In, auf und neben einer derartigen knallroten Großplastik ist die Geschichte von Pelléas und Mélisande angesiedelt. Man könnte sie mit einer riesigen, in der Mitte halbierten, querliegende Vase vergleichen, innen mit einer großen Ausbuchtung versehen, die auf dünnen Stelzen steht, über Leitern und einen Steg begehbar und als Ganzes auch drehbar ist. Die Konstruktion wirkt sich auf die akustischen Bedingungen sehr günstig aus, da sie den Bühnenraum verkleinert und durch den inneren "Vasen-"Raum einen guten Resonanzkörper für die Stimmen schafft. Das kommt der ohnehin textdeutlichen Aufführung sehr zugute. Das abstrakte Gebilde charakterisiert Audi, der bereits mehrfach mit bildenden Künstlern kooperierte (Karel Appel, Iannis Kounellis und Georg Baselitz) als 'befreiendes Hindernis'. Eine Skulptur ist eben unveränderbar 'da'. Aber aufgrund ihres erstmal bedeutungs- und konnotationsfreien Äußeren ist sie interpretativ frei aufladbar, ohne das explizite Festlegungen nötig sind. Pierre Audi erkennt in ihr Gebärmutter, Fötus, Auge, Liebesnest, Folterkammer, Haus, Zimmer und Brunnen zugleich. Die Skulptur wird wirkungsvoll ausgeleuchtet in der Lichtregie von Jean Kalman.

Die nächste Verstörung dann gleich zu Anfang beim Auftritt Mélisandes (Sandrine Piau). Golaud (Dietrich Henschel) findet sie kahlgeschoren wie eine Verbrecherin am Rande der Skulptur. Wenn man bedenkt, wie relevant ihr Haar in 'Pélleas' ist – als Symbol für Zerbrechlichkeit, sexuelle Verführung, Zeichen des Gefangenseins, Mittel zur Verletzung - ist es das Zeichen für die Neuausrichtung der Mélisande durch Audi. In seiner Sicht ist sie doppelgesichtig, einerseits verletzt und geschändet, ausgesetzt und heimatlos, eine Asylsuchende sans papiers, zugleich aber ist sie die große Manipulierende, die alle zentralen Personen in ihren Fängen hat: femme fragile und femme fatale zugleich. Szenische Implikationen, wie bei Mélisandes Haarlied in der Turmszene, werden mit einem Schal elegant umschifft. Erst nach dem Tod Pelléas' und vor ihrem Ende verfügt sie – eine Irritation mehr – über üppiges, langes Haar. Haare sind indes als Symbol eingewirkt in ihre Kleider, die sie szenenweise wechselt, sieben in allen Regenbogenfarben (Kostüme: Patrick Kinmonth). Mélisande, wie die anderen Personen auch, ist durch einen großen Blutfleck gezeichnet, Relikt erlittener Verletzungen. Golaud ist bei Audi ein selbstbezogener, liebesunfähiger Voyeur und Sadomasochist, ein ungewohnt jugendlicher und kraftvoller Typ, brutal und immer mit einem Dolch bewaffnet. Dies wird besonders in der Bespitzelungsszene mit dem Sohn Yniold (Valérie Gabail) deutlich, wo er den Kleinen geradezu quält, um zu erfahren, was sich dann doch nicht abspielt. Pelléas (Stéphane Degout) hingegen, die einzige positiv gestaltete Figur, passt als Aussenseiter in die düstere, zum Verfall bestimmte Welt von Allemonde nicht hinein. Von Anfang an ist er im Aufbruch, versucht der Familie zu entfliehen, entkommt aber der Manipulatrice Mélisande nicht und kommt deshalb mehr durch sie um als durch Golaud. Verstörend-inspirierend-bezeichnend für Audis Regie sind auch die Nebenszenen: Die Schafherde mutiert bei ihm zu einer Schar missbrauchter Kinder, die von ihrem Schänder geführt werden - auch ein trauriges belgisches Thema. In Mélisandes Sterbeszene erscheinen sieben Frauen in den abgelegten Kleidern Mélisandes, eine Referenz an einen anderen (nicht nur) Maeterlinckschen Frauenvernichter: Blaubart.

Die Hauptrollen sind allesamt bravouröse Rollendebuts: Stéphane Degout als intensiver, leidenschaftlicher Pelléas, Sandrine Piau als Mélisande mit klangschönem, strahlendem Sopran und Dietrich Henschel als Golaud mit klar artikulierendem Bariton. Auch die Nebenrollen sind über alle Zweifel erhaben: Marie-Nicole Lemieux ist eine sehr präsente Geneviève, Valérie Gabail als Knabe Yniold, Alain Vernhes als Arkel, Jean Teitgen als Arzt und Wiard Witholt als Hirt.

Das Orchester der Monnaie Oper unter der Leitung von Mark Wigglesworth, der die Partitur zum erstenmal realisiert, spielt zurückhaltend und schien nicht besonders inspiriert und engagiert. Wigglesworth wählte einen dunklen, schweren Ton, ohne Akzentuierung der Delikatesse und auch der Poesie des Stücks. Die Zurückhaltung ist gut für die Sänger, die absolut textverständlich vernehmbar waren, aber ein herber Verlust für die farben- und finessenreiche Partitur mit ihren ätherischen Qualitäten, bedauerlich auch für die orchestralen Zwischenspiele.

Das Publikum nahm die Aufführung mit einer für Brüsseler Verhältnisse seltenen Zurückhaltung auf. Kurzer, höflicher Beifall.

Dirk Ufermann
 






Fotos: Maarten Vanden Abeele