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Fakten zur Aufführung 

MÉDÉE
(Luigi Cherubini)
20. April 2008
(Premiere: 12. April 2008)

La Monnaie / De Munt Brüssel


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Cherubinis Médée in der Urfassung in Brüssel: eine Sensation

Was Oper in ihren besten Momenten sein kann, zeigt die Brüsseler Oper La Monnaie mit ihrer Neuproduktion von Luigi Cherubinis Médée. Ein exzellentes Casting, eine en détail durchdachte und ausgearbeitete Regie, ein effektives und angemessenes Bühnenbild, ein wirkungsvoller Einsatz von Film und Licht und nicht zuletzt ein bestens präpariertes Orchester unter der Leitung eines engagierten Dirigenten führen zu einer konsequenten, kohärenten und überzeugenden Aufführung von extrem hohem Perfektionsgrad mit überwältigender Wirkung.

Das Brüsseler Team um den Dirigenten Christophe Rousset und den Regisseur Krzysztof Warlikowski – beide gaben ihr Debut an der belgischen Nationaloper – traf mit der Wahl der Pariser Urfassung von 1797 auch eine grundlegende dramaturgische Entscheidung. Die französische Urfassung, die seit kurzem in einer kritischen Ausgabe vorliegt, unterscheidet sich von der italienischen nicht nur durch die andere Sprache, die eben auch immer eine ganz andere Atmosphäre hat, sondern vor allem durch die gesprochenen Rezitative im Stil der Opéra comique. Es herrscht also eine ganz andere Balance zwischen Wort und Musik, als in der späteren italienischen Fassung, die sich vor allem wegen der legendären Interpretationen von Maria Callas (1953-1962) weitgehend durchgesetzt hatte. Naheliegend auf dem Weg zurück zu den Ursprüngen ist es auch, ein Orchester zu engagieren, dass sich um die sogenannte historische Aufführungspraxis verdient gemacht hat: Les Talens Lyriques, gegründet im Jahre 1991 durch ihren Leiter und Dirigenten Christophe Rousset. Rousset und Warlinowski nahmen den historischen Ansatz dieser Produktion aber nicht dogmatisch: Zugunsten einer packenden Inszenierung wurden die gesprochenen Dialoge der Urfassung des Librettisten François-Benoît Hoffman modernisiert und an den heutigen Alltagsprachgebrauch angepasst. Bemerkenswert ist, dass Médée oder Medea bislang an der Brüsseler Oper noch nie aufgeführt wurden.

Die Inszenierung startet schon vor dem eigentlichen Beginn (weitergeführt auch in der Pause) mit einer technisch perfekt auf das geschlossene, hohe Bühnentor abgestimmten Projektion von privaten Super-8 Filmen aus den 60er Jahren (Video: Denis Guéguin), unterlegt mit Populärmusik aus der gleichen Zeit ( Paul Anka, Procol Harum) : Kinderszenen, Hochzeiten, religiöse und Familienfeste, Urlaube, Szenen am Meer und im Garten, glückliche Mütter und Väter - Höhepunkte aus dem Glücksbereich des Familienlebens, wie sie positiver nicht sein können, gesehen und dargestellt aus der Perspektive der Familien selbst. Die Aufnahmen besitzen neben dem amateurhaften Gestus schon die leichte Alters-Patina der jüngeren Vergangenheit. Liebevoll ironisch durch Strahler hervorgehoben und mit einem Heiligenschein versehen wurden auch die kleinen Putti der Innenraumdekoration des Opernhauses: Kinder als Highlights.

Dass diesem idealisierten Familienfrieden nicht immer Dauer beschieden ist und wie vergänglich die Idylle ist, zeigt dann gleich der erste Akt der Oper. Zuerst scheint während der Vorbereitungen zur Hochzeit von Jason (Kurt Streit) und seiner zweiten Frau Dircé (Virginie Pochon) noch alles in Ordnung. Modern gekleidet erscheint Dircé als eine junge, ätherische, fragile Frau aus der upper class. Doch wie ein Schatten liegt auf ihr die Angst vor ihrer machtvollen Vorgängerin Médée (Nadja Michael). Jason, ihr zukünftiger Mann ist ebenfalls gut gewandet, doch verweisen seine Rasta-Locken auf eine frühere, viel wildere Lebensperiode, die er nun zielstrebig hinter sich lassen möchte. Dass er ein Aufsteiger ist, der ein neues Leben in wohl situierten Kreisen beginnen möchte, sieht man dann, als Médée in das Geschehen hereinbricht und die Hochzeit mit allen Mitteln verhindern möchte. Als Punkerin im eng anliegenden Latexkleid, an den Oberarmen auffällig tätowiert, ist sie völlig inkompatibel mit dem feinen Gehabe der herrschenden Klasse von Korinth. Créon (Philippe Rouillon), ein moderner, glatter Politikertyp in Freizeitkleidung schickt sie in der neuen Textfassung dann auch nicht in die Verbannung, sondern verweigert ihr die weitere Aufenthaltsgenehmigung. Médée ist als verlassene ge- und enttäuschte Frau nun doppelt heimatlos, da sie sich für Jason durch Verrat an ihrer Familie von dieser abgesondert hat und jetzt in ihrer neuen Heimat aufgrund ihrer Herkunft fremd, marginalisiert und rechtlos ist. Médée ist unter aktuellen Vorzeichen eine Einwanderin und Exilantin, deren Assimilation weder in der Ehe noch gesellschaftlich gelingt. Jason trennt sich von ihr, weil er mit seiner neuen Partie in der Gesellschaft besser reüssiert, dabei vergessend, dass es Médée war, die ihn erst in die Position gebracht hat – die Vorgeschichte mit der Erlangung des goldenen Vlieses. Warlikowski deutet in der Inszenierung einen rassistischen Ost-west bzw. einen islamisch-christlichen Gegensatz als Interpretationsmöglichkeit für den Gegensatz Kolchis – Korinth an, ohne ihn aber als Deutungsfolie überzubewerten.

Die elektrisierende Médée der Nadja Michael dominierte die Aufführung ganz überragend. Sie ist eine überaus persönlichkeitsstarke, präsente Sopranistin, die das Schauspielerische genau so souverän und spektakulär beherrscht und gestaltet wie das Sängerische. Sie transportiert das Extreme der mythologischen Figur kraftvoll und in jedem Moment erschreckend glaubwürdig in die Gegenwart. Wie sie ausrastet, verzweifelt, den monströsen Mordplan entwickelt, verwirft, neu aufnimmt und voller Ernst und Berechnung realisiert, das ist phänomenal. Die beiden Kinder, Symbol ihrer glücklichen Vergangenheit, die aber wiederum auf Verrat und Mord beruhte, sind ihr nur noch Mittel und Methode, um ihren Ex-Mann im Kern zu treffen. Am Ende – nach aller Musik – steht Médée schweigend und allein vor dem geschlossenen Bühnenportal, in lähmender Stille, raucht eine letzte Zigarette, tritt durch eine Tür ab, die metallisch krachend geräuschvoll hinter ihr zufällt. Ein wahnsinniger Augenblick, in dem der Schrecken des Monströsen nachwirkt in der totalen Einsamkeit der Täterin.

Neben Nadja Michael agierte auch die übrige Besetzung ganz überragend. Kurt Streit, ein Tenor mit schönem Timbre, verkörperte die niederträchtige Rolle des Jason kraftvoll und viril, aber nicht aggressiv. Bestens in Form auch Philippe Rouillon, Créon, und Virginie Pochon mit ihrem duchsichtigen und klaren Sopran. Ekaterina Gubanova gestaltete die Néris mit aller Feinheit und Subtilität als die treue, schwesterliche Freundin und Dienerin. Sie ist so gesehen eine Vorläuferin der Brangäne und oft Ruhepunkt der Aufführung.

Unter der hellwachen Stabführung von Christophe Rousset spielte sein blendend aufgelegtes Orchester, Les Talens Lyriques, klar, schlank und farbenreich, die Verwandtschaft Cherubinis mit Gluck, Beethoven und auch der französischen Tradition eines Rameau wurde ohrenfällig. Glänzend auch einzelne instrumentale Höhepunkte aus dem Orchester, etwa bei Posaunen und Fagott. Der Opernchor erwies sich - wie immer – als homogen und spielfreudig. Das Brüsseler Publikum reagierte nach dem Schock des Endes nach einer kleinen Pause mit frenetischer Begeisterung.

Dirk Ufermann

 






Fotos: Maarten Vanden Abeele