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Parallelerzählung
Ein Schreckensbild der deutschen Gesellschaft um 2030 skizziert Tilman
Knabe im 3. Akt seines Tannhäusers. Ort des Geschehens ist die zu einer
wilden Müllkippe verwandelte Restruine einer Kirche (Bühne: Beatrix von
Pilgrim). In Pappzelten kauert hier die Gemeinde der aus der Solidargesellschaft
Vertriebenen: Alte, Kranke, Arbeitslose. In ihrer Mitte Wolfram, Venus
und Elisabeth. Die Tochter aus dem Establishment und die Fixerin vom Drogenstrich
verbindet schon seit dem 2. Akt eine rücksichtsvolle Zärtlichkeit füreinander.
Jetzt organisieren sie als alte Frauen eine Armenspeisung.
Knabe lässt zwischen dem 2. und 3. Akt einige Jahrzehnte verstreichen,
um zu Ende zu denken, wohin sich die präfaschistische Gesellschaft, die
er im 1. und 2. Akt noch mit distanzierendem Slapstick vorführt, bewegt.
Was hier heraufzieht, ist die rücksichtslose und brutale "Ausmerze" allen
ökonomisch funktionslosen Andersseins und Außenseitertums, bei Knabe idealtypisch
vertreten durch Elisabeth (Caritas und weibliche Moral) und Venus (Sinnlichkeit
und Mütterlichkeit) sowie durch Wolframs Freundschaftsgeist und Tannhäuser.
Wie zu erwarten war, präsentiert Knabe also nicht in historisierender
Manier eine Legende aus dem 13. Jahrhundert. Es laufen stattdessen zwei
Geschichten gleichzeitig nebeneinander her: die, von der gesungen wird
und Knabes Parallelerzählung. Das führt zu manchen Ungereimtheiten, zu
einem Überhang an Ideen und Defiziten in der theatralischen Umsetzung.
Entscheidend aber sind die Schnittstellen zwischen Knabes Erzählstrang
und der musikalischen Erzählung, die der Musik eine verblüffende Wirkungssteigerung
zuwachsen lassen, wie zum Beispiel bei dem großen szenischen Erbarmen
mit der Elendsgesellschaft zu Beginn des 3. Aufzugs .
Das Publikum tat sich allerdings schwer mit einem Tannhäuser, der sein
Preislied mit der Bierdose in der Hand zelebriert. Zu den intimsten musikerotischen
Eingebungen Wagners im 1. Akt erscheinen Venus und ihr Gefolge als Fruchtbarkeitsgöttinnen,
die später im 3. Akt efeubekränzt den grünenden Pilgerstab ersetzen. An
den Zusammenhang von weiblicher Sexualität und Gebärfähigkeit zu erinnern,
grenzt in Zeiten des Cybersex wohl schon an einen Tabubruch.
Paul Lyon (Tannhäuser) zeigt sich den Klippen seiner Partie kaum gewachsen.
Birgit Eger erobert als Elisabeth die Herzen der Zuschauer mit einem sängerdarstellerischen
Porträt voller Expression, Kraft und Anmut. Mit sinnlich warmen Farben
gestaltet Barbara Schneider-Hofstetter ihre Venus. Armin Kolarczyk wertet
die Partie Wolfram von Eschenbachs durch seinen elegant geführten Bariton
erheblich auf. Die präzise vorbereiteten Chöre garantieren - Nietzsche
zum Trotz -, dass die Pilgergesänge nicht "schwitzen".
GMD Lawrence Renes und die Bremer Philharmoniker kosten die instrumentalen
Valeurs der Partitur voll aus und dringen immer wieder bis zum Klang-Optimum
vor.
"Buhs" begleiten den Abend. "Der sozialkritische Unterricht muss ja weitergehen",
zischt es im Parkett, dann ein empörtes "Pfui!". So sehr solche Unmutsäußerungen
als Ausdruck einer kritischen Begleitung durch das Publikum im Allgemeinen
zu begrüßen sind, an diesem Abend wird man den Eindruck nicht los, sie
gelten unterschwellig weniger den Darstellern als den dargestellten Menschen.
Das wäre eine schreckliche Bestätigung für Knabes Zeitdiagnose. (ct)
Karten unter (0421) 36 53 333 |
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