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Fakten zur Aufführung 

TANNHÄUSER
(Richard Wagner)
27. März 2004 (Premiere)

Bremer Theater

Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

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Parallelerzählung

Ein Schreckensbild der deutschen Gesellschaft um 2030 skizziert Tilman Knabe im 3. Akt seines Tannhäusers. Ort des Geschehens ist die zu einer wilden Müllkippe verwandelte Restruine einer Kirche (Bühne: Beatrix von Pilgrim). In Pappzelten kauert hier die Gemeinde der aus der Solidargesellschaft Vertriebenen: Alte, Kranke, Arbeitslose. In ihrer Mitte Wolfram, Venus und Elisabeth. Die Tochter aus dem Establishment und die Fixerin vom Drogenstrich verbindet schon seit dem 2. Akt eine rücksichtsvolle Zärtlichkeit füreinander. Jetzt organisieren sie als alte Frauen eine Armenspeisung.

Knabe lässt zwischen dem 2. und 3. Akt einige Jahrzehnte verstreichen, um zu Ende zu denken, wohin sich die präfaschistische Gesellschaft, die er im 1. und 2. Akt noch mit distanzierendem Slapstick vorführt, bewegt. Was hier heraufzieht, ist die rücksichtslose und brutale "Ausmerze" allen ökonomisch funktionslosen Andersseins und Außenseitertums, bei Knabe idealtypisch vertreten durch Elisabeth (Caritas und weibliche Moral) und Venus (Sinnlichkeit und Mütterlichkeit) sowie durch Wolframs Freundschaftsgeist und Tannhäuser.

Wie zu erwarten war, präsentiert Knabe also nicht in historisierender Manier eine Legende aus dem 13. Jahrhundert. Es laufen stattdessen zwei Geschichten gleichzeitig nebeneinander her: die, von der gesungen wird und Knabes Parallelerzählung. Das führt zu manchen Ungereimtheiten, zu einem Überhang an Ideen und Defiziten in der theatralischen Umsetzung. Entscheidend aber sind die Schnittstellen zwischen Knabes Erzählstrang und der musikalischen Erzählung, die der Musik eine verblüffende Wirkungssteigerung zuwachsen lassen, wie zum Beispiel bei dem großen szenischen Erbarmen mit der Elendsgesellschaft zu Beginn des 3. Aufzugs .

Das Publikum tat sich allerdings schwer mit einem Tannhäuser, der sein Preislied mit der Bierdose in der Hand zelebriert. Zu den intimsten musikerotischen Eingebungen Wagners im 1. Akt erscheinen Venus und ihr Gefolge als Fruchtbarkeitsgöttinnen, die später im 3. Akt efeubekränzt den grünenden Pilgerstab ersetzen. An den Zusammenhang von weiblicher Sexualität und Gebärfähigkeit zu erinnern, grenzt in Zeiten des Cybersex wohl schon an einen Tabubruch.

Paul Lyon (Tannhäuser) zeigt sich den Klippen seiner Partie kaum gewachsen. Birgit Eger erobert als Elisabeth die Herzen der Zuschauer mit einem sängerdarstellerischen Porträt voller Expression, Kraft und Anmut. Mit sinnlich warmen Farben gestaltet Barbara Schneider-Hofstetter ihre Venus. Armin Kolarczyk wertet die Partie Wolfram von Eschenbachs durch seinen elegant geführten Bariton erheblich auf. Die präzise vorbereiteten Chöre garantieren - Nietzsche zum Trotz -, dass die Pilgergesänge nicht "schwitzen".

GMD Lawrence Renes und die Bremer Philharmoniker kosten die instrumentalen Valeurs der Partitur voll aus und dringen immer wieder bis zum Klang-Optimum vor.

"Buhs" begleiten den Abend. "Der sozialkritische Unterricht muss ja weitergehen", zischt es im Parkett, dann ein empörtes "Pfui!". So sehr solche Unmutsäußerungen als Ausdruck einer kritischen Begleitung durch das Publikum im Allgemeinen zu begrüßen sind, an diesem Abend wird man den Eindruck nicht los, sie gelten unterschwellig weniger den Darstellern als den dargestellten Menschen. Das wäre eine schreckliche Bestätigung für Knabes Zeitdiagnose. (ct)


Karten unter (0421) 36 53 333






Fotos: © Jörg Landsberg