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Fakten zur Aufführung 

INFERNO
(Johannes Kalitzke)
11. Juni 2005 (Uraufführung)

Bremer Theater

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Erinnerungsverbot und Utopieverlust

„Gestorben sind sie. Schuldig sind, die leben“, heißt es in Hölderlins Antigone-Übersetzung. Die satte, gut amüsierte Bundesrepublik der 50er und 60er Jahre hatte für diese Erkenntnis kein Gehör. Als Reaktion auf die Verdrängung des Holocaust schrieb Peter Weiss sein erst 2003 aus dem Nachlass publiziertes Stück „Inferno“. Es ist Bestandteil eines unvollendet gebliebenen Triptychons, welches sich auf das Modell von Dante Alighieris in der Verbannung gedichteter „Göttlicher Komödie“ stützt. In „Inferno“ stellt Weiss die Widerfahrnisse eines aus der Emigration zurückkehrenden Schriftstellers („Dante“) dar: Seine Schuldgefühle als Überlebender instrumentalisieren die Täter zur repressiven Integration des Opfers in die neue falsche Gesellschaft.

Wenn nun Johannes Kalitzke auf Weiss’ „Inferno“ eine Oper komponiert hat, so ist dies keineswegs ein Anachronismus, denn ungeachtet aller „Geschichtsaufarbeitung“ und „Vergangenheitsbewältigung“ scheint sich an der Grundverfassung der Gesellschaft nicht viel geändert zu haben. Wie anders ist es zu verstehen, dass sich die Erinnerungsarbeit mitnichten zu einem permanenten ethischen Imperativ verdichtet hat und stattdessen Gedankenlosigkeit, die gleichgültige Hinnahme substantieller gesellschaftlicher Ungerechtigkeit und die Leugnung der aktiven politisch-moralischen Handlungsfähigkeit der Menschen den Alltag beherrschen?

Die Hölle sind bei Weiss/Kalitzke Leben und Menschen in der Stadt des Heimkehrers: Heinz Hauser hat sie als ein monumental statisches Gittergespinst entworfen, das in seiner ungreifbaren, aseptisch-abstrakten Sinnlichkeit auf ebenso faszinierende wie beklemmende Weise die anonyme Macht des Kapitals darstellt. Später entpuppt sich diese Drahtkonstruktion als gigantische Verkleidung für das Grauen der Gaskammer. Eine gelb-grüne Zeitspirale unterstreicht die Kontinuität von Vergangenheit und Gegenwart.

David Mouchtar-Samorai (Regie) macht eindringlich sichtbar, wie die gesellschaftlichen Akteure ihr infames Spiel mit Dante bis hin zur Ununterscheidbarkeit von Tätern und Opfern treiben. Zynismus, Häme und feiste Selbstgerechtigkeit charakterisieren eine dem zeitlosen fun ergebene Personage. Und hinter den ständig wechselnden Rollen der Mitmacher auf diesem Megaevent scheinen gar keine eigentlichen Menschen mehr zu stecken. Die Realität als entfesseltes Totaltheater! Sehr einleuchtend erklingt dazu eine Art Anti-Musical, für das Johannes Kalitzke die verzerrten Idiome historischer und zeitgenössischer Tänze erfunden hat.

Ihren besondern Rang erhält die neue Oper jedoch noch durch eine ganz andere Dimension. Als einzige, aber entscheidende Änderung, die Kalitzkes Libretto an dem sonst lediglich gekürzten Text vornimmt, wechseln die letzten Worte des Dante „Ich sage mich/ für immer/ von euch los“ auf Beatrice. Nur von hier aus ist das Werk zu verstehen. In der ephemeren Opernfigur der Beatrice sind das erotische Lebensfaszinosum des historischen Dante Alighieri und die Beatrice aus dem Text von Peter Weiss - sie steht im Zentrum der Erinnerung und der Schuldgefühle des Exilanten Dante - übereinander geblendet. Immer wieder erscheint Beatrice in der Zeitspirale: als Liebesideal; als Häftling; als Tote - nackt und kahl und jeglicher Würde beraubt. Auf den Utopieverlust im Abschied der Beatrice strebt die Musik der ganzen Oper hin, in der ein tieftraurig-träumerischer Grundzug, eine nach innen gerichtete Verlorenheit allmählich über die Wirkung der parodistischen Abschnitte dominieren. Damit legt die Musik auch den von stärksten persönlichen Empfindungen beladenen biographischen Subtext der Vorlage von Peter Weiss wieder frei.

Stefan Klingele und die Bremer Philharmoniker bürgen überzeugend für die präzise, eindringliche Wirksamkeit von Kalitzkes hochkomplexer, elektronisch angereicherter Musik, ohne in die konventionelle Eindeutigkeit feststehender Emotionen zurückzufallen. Chor und Solisten mit Arnim Kolarczyk als verzweifelter Intellektueller Dante und Benjamin Bruns als behänder Vergil erweisen sich der konstruktivistisch fundierten Expressivität der Vokalpartien gut gewachsen. Die Zuschauer verfolgen die Uraufführung mit gespannter Konzentration, am Ende zu Recht anerkennender Applaus. Zweifellos ist dem Bremer Theater mit dieser Uraufführung ein großer Wurf gelungen. (ct)


Fotos: © Jörg Landsberg