Mythos ade
Der Mythos Lohengrin ist tot – aber die Familie lebt (vielleicht)! Michael Sturmingers Konzept entwickelt sich langfristig, findet die „Pointe“ erst ganz am Schluss - aber das in frappierender Übereinstimmung mit der Wagner-Dramaturgie und behutsam-nachdenkenswert aufbauend. Zu sehen ist ein totalitär-verschleiertes System – Olympia 36 mit unbegriffener Gemeinschaft versus bedrängter Minderheit und einem missbrauchten Idealisten. Hoch plausibel agiert da eine eingenordete Masse mit machtbewusstem König und agitierendem „Heerrufer“ gegen die opponierenden Kräfte der Tradition (Telramund und Ortrud), will sich per Mystifikation eines charismatischen „Helden“ bedienen, scheitert dann aber an zwischenmenschlichen Wahrheiten: Klimax der komplexen Handlung ist die Auseinandersetzung Elsa-Lohengrin, in der es um das gegenseitige Vertrauen geht, und der getäuschte Lohengrin seinen Irrtum begreift.
Szenisch ist Elsa als Beobachterin des Geschehens zu erleben; im Schlussbild versammeln sich Lohengrin, Elsa und Gottfried auf den Zuschauersitzen – doch der Machtkampf geht weiter.
Gregor Zivić stellt ein skelettartig-labyrinthisches Gebilde auf die Bühne (zitiert aber nicht das Berliner Olympiastadion, sondern die Olympia-Architektur Pekings), platziert davor eine offene Spielfläche mit wiederum davor gestellten Theatersitzen. Antonia Fietz steckt die Personen in 30er-Jahre-Kostüme mit Olympia-Look, die „Edlen“ im KampfrichterInnen-Outfit, der Heerrufer mit Hockey-Knieschützern.
Alexander Joel intoniert mit dem tongewaltigen Staatsorchester Braunschweig einen brachialen Wagner-Klang – entsprechend der historischen Vorgabe. Doch ist es verdammt schwer, Musik distanziert-verfremdet zu präsentieren, die in dieser Form zudem noch in vielen Köpfen als „werkgerecht“ akzeptiert wird.
Das Braunschweiger Ensemble kommt mit den darstellerischen Herausforderungen gut zurecht, lässt sich auf die szenischen Möglichkeiten mit Verve ein. Rossella Ragatzu – einst eine bewegend lyrische Figaro-Gräfin – gibt der Elsa selbstbewusst-kraftvolle Stimme; Kor-Jan Dusseljee steigert sich zu einer hörenswert-differenzierten Gralserzählung; Jan Zinkler bleibt ein stimmlich indifferenter Telramund; Dagmar Pecková hat Probleme mit den mörderischen Anforderungen der Ortrud – eine faszinierend voluminöse Grundlage kontrastiert mit heftigen Lagenwechseln; Selcuk Hakan Tirasoglu bleibt ein eindimensional intonierender König; und Malte Roesner gibt dem Heerrufer dramatischen Klang. Der Chor agiert – inszenatorisch vorgegeben – statisch-komplex, singt in vollkommener kollektiver Abstimmung.
Im Premierenpublikum ist permanentes Nicht-Verstehen zu vermerken – und die eher zaghaften Buhs für das Regieteam sind offenbar der überraschend differenzierten Deutung zuzuschreiben. Prognose: Dieser vorsichtig historisch erklärende Lohengrin wird – nach eingehender Kommunikation - zu einem Erfolg für das Braunschweiger Haus. (frs) |