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Fakten zur Aufführung 

ANATEVKA
(Jerry Bock)
2. November 2003 (Premiere)

Oper Bonn

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Provisorisch

Als dritte Premiere präsentiert die Bonner Oper diese Spielzeit das Musical "Anatevka" von Jerry Bock, ein Stück, das seit seiner deutschsprachigen Erstaufführung 1968 in Hamburg von vielen Stadt- und Staatstheatern nachgespielt wurde. Mit diesem Stück wird landläufig das gemütliche Bild Anatekas (einem Dorf irgendwo in Rußland um 1905) mit seinen (mehr oder weniger) schrägen Bewohnern verbunden, die am Ende aus ihrer angestammten Heimat vertrieben werden.

Diese Klischees vermeidet Kirsten Harms in ihrer Inszenierung konsequent. Die bittersüße Geschichte eines Judenpogroms wird nicht in einem naturalistischen Bühnenbild, sondern in einem leeren Theaterraum inszeniert. Die Schauplätze werden nur angedeutet, alles ist provisorisch, und die Figuren leben aus dem Koffer. Im Laufe der Vorstellung wird deutlich, dass Anatevka viel weniger ein geographischer Ort, sondern vielmehr eine gemeinsame Lebensanschauung ist.

Das, was die Figuren miteinander verbindet, ihre Freundschaften sowie ihre kleinen Feindseligkeiten, definieren und terminieren Anatevka viel deutlicher als ein Punkt auf einer (fiktiven) Landkarte. Die Vertreibung am Ende erhält bei dieser Interpretation schärfere Konturen: Denn waren die Bewohner von Anatevka während des Stückes ein Verband (vorwiegend) solidarisch handelnder Figuren, wird dieser durch die Vertreibung lediglich zu einem Konglomerat versprengter Individuen.

Diesem Prozess geht Kirsten Harms auf den Grund. Ausgelassenheit und Existenzängste wechseln in diesem Stück plötzlich einander ab, greifen ineinander und bedingen sich gegenseitig. Die große Leistung der Regie besteht darin, dass sie den Ursachen für diese Stimmungswechsel sensibel schildert, so dass die Aufführung weder zu einem larmoyanten Rührstück, noch zu einer plakativen Posse verkommt.

Musikalisch hinterließ die Produktion einen eher unausgeglichenen Gesamteindruck. Das zeigte sich besonders in den großen Chören und Ensembles: Die elektronisch verstärkt singenden Solisten dominierten den unverstärkten Chor, so dass kein homogener Klang entstehen konnte. Hinzu kamen Unstimmigkeiten im Orchester, das unter der Stabführung von Wolfgang Lischke eher kantig musizierte.

Bei dem aus (Opern-) Solisten Schauspielern und (Opern-) Chorsängern bunt zusammengewürfelten Solistenensemble zeigten sich leider deutlich qualitative Unterschiede in der musikalischen wie sprachlichen Gestaltung. Besonders evident wurde das bei den Rollen der Golde (Barbara Teubner) und des Mottel (Mark Rosenthal).Während Barbara Teuber als Golde ihren Charakter sehr feinsinnig ausmodelierte, ließ ihre musikalische Interpretation der Rolle doch einiges zu wünschen übrig. Mark Rosenthal behandelte seine Dialoge wie ein klischeehafter Opernsänger: seine Diktion war überdeutlich, was zur Folge hatte, dass seine Rolle des Mottels sehr pathosbeladen daher kam und dadurch einiges an Glaubwürdigkeit einbüßte. Dafür war er stimmlich sehr präsent und wartete mit einer sehr sinnhaften musikalischen Gestaltung seiner Rolle auf. Überragend war allerdings Tom Zahner in der Rolle des Tevje. Er spielte die Rolle des Milchmanns ohne jedes Klischee und vordergründiges Buffonieren. Er ist hier nicht der gemütliche, bauernschlaue Milchmann, sondern ein aufrichtiger, tief gläubiger Vater, dem das Schicksal seiner Familie am Herzen liegt, und der ständig sich, seinen Glauben und seine Traditionen hinterfragt, letztenendes sich aber doch ihnen beugt und daran zerbricht.

Insgesamt zeigt die Aufführung, dass man auch im Genre Musical eigene Wege gehen kann und nicht zwingend auf schablonenhafte Stereotypen zurückgreifen muss. (tk)






Fotos: © Thilo Beu