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Fakten zur Aufführung 

TEOREMA
(nach Pier Paolo Pasolini)
18. September 2009 (Uraufführung)

Jahrhunderthalle Bochum
Ruhrtriennale


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Einbruch in das 68er-Museum

Das Szenario: Eine reiche Familie lebt in dem Vorort einer Großstadt. Der Vater Paolo besitzt einen großen Betrieb. Mutter Lucia führt ein luxuriöses Leben und die Kinder Pietro und Odetta gehen auf eine exklusive Schule. Ein Gast wird angekündigt, den alle erwartet zu haben scheinen. Der junge Mann trifft ein und wird von der Haushälterin Emilia in Pietros Zimmer gebracht. Die Haushälterin reagiert heftig auf den jungen Mann, sucht seine Aufmerksamkeit. Lucia fühlt sich ebenfalls von ihm angezogen und schläft schließlich mit ihm. Auch Pietro hat Sex mit dem Fremden. Auch Odetta schläft mit dem fremden Gast. Schließlich verfällt auch Paolo der körperlichen Anziehungskraft des Fremden. Dann verlässt der Gast die Familie so abrupt wie er gekommen war. Die Familie verfällt in einen Zustand der Verzweifelung und versucht mit der neuen Lage umzugehen. Odetta kehrt in ihr Heimatdorf zurück. Odetta spürt den Orten nach, an denen der Gast sich aufgehalten hat und verzweifelt schließlich vollends. Pietro versucht, mit Malerei das Bild des Gastes aufrechtzuerhalten. Lucia sucht nach Ersatzpartnern, schläft mit einem Studenten und mit zwei Fremden. Emilia, die Haushälterin, weigert sich zu essen und wird daraufhin wie durch ein Wunder in die Lüfte gehoben. Auch Paolo kann nicht ohne den Fremden weiterleben. Er glaubt ihn auf dem Bahnhof in einem Jungen zu erkennen. Paolo legt die Kleider ab und stößt einen verzweifelten Schrei aus.

Das Stück orientiert sich an Pier Paolo Pasolinis Film Teorema aus dem Jahr 1968. Das zentrale Thema ist der „Ausbruch“ einer unspezifizierten Krankheit nach dem Erscheinen eines geheimnisvollen jungen Mannes, der in jedem Mitglied der (groß)bürgerlichen Familie ein sexuelles Verlangen auslöst und diese dann verzweifelt zurücklässt. Museal angestaubt wirkt der Plot auf den heutigen Betrachter: Der Einbruch des Fremden in die familiäre Geordnetheit der Gesellschaft und der Einsatz des Sexuellen als einem Mittel, in der Bourgeoisie Anarchie und Selbstzweifel auszulösen, entstammen der Vorstellungswelt der ganz frühen 68er. Sie haben für unsere heutige Gesellschaft keine andere analytische Bedeutung mehr als diejenige, darüber zu staunen, wie naiv man die Welt sehen kann. Sexualität ist selber zum allgegenwärtigen Konsumprodukt geworden. Durch das Fremde wird heute kein Selbstzweifel mehr ausgelöst, sondern es wird fein säuberlich ausgegrenzt und beherrschbar gemacht. Schließlich sucht man das Feindbild der großbürgerlichen Familie heute vergebens, da sich die familiären Strukturen aufgelöst haben in Einzelteile.

Wenn das Werk schon nicht intellektuell überzeugt, so doch in vollem Maße künstlerisch. Und darauf kommt es ja an. Regie und Bühne finden großartige Bilder und gestalten eine einheitliche Spielfläche. Das fortlaufende Video einer Erdmännchen-Familie gibt der Aufführung eine ironische Brechung, die bei all der Gesellschaftskritik auch dringend benötigt war. Das Schauspielerensemble überzeugt im Ganzen, ohne das eine Einzelleistung hervorzuheben wäre. Sicherlich lohnt es sich, das Stück auch künftig aufzuführen – als ästhetisches Ereignis, weniger als Theorie.

Stefan Ulbrich

 






 
Fotos: © Jan Verzweyveld