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Tod auf Kohle
"Kreationen" sind die Kernstücke der Ruhrtriennale. Gerard Mortier "erfindet"
mit phantasievollen Ensembles, Regisseuren, Musikern, Schauspielern und
Sängern eine szenische Form sui generis: Musiktheater pur mit schauspielernden
Musikern und musizierenden Schauspielern.
In "Sentimenti" werden Ralf Rothmanns "Milch und Kohle" und Verdi-Arien
zur Hommage auf eine sterbende Kultur integriert. Erstmals gewinnt das
Leben im Revier der 60er Jahre tragische Dimension! Johan Simons und Paul
Kolk der ZT Hollandia Eindhoven nutzen dazu eine Bühne von Geert Peymen,
die eine Spielfläche aus Tausenden von Briketts präsentiert - Verweise
auf eine Vergangenheit in einem industriellen Denkmal sakraler Größe.
Der weitläufige Spielraum wird zum Lebensraum der sterbenden Mutter, lebenshungrig,
ohne Ausweg aus der gegebenen Umwelt mit harter Arbeit, erzwungener Armut
und Fluchten in plattes Amüsement - den unausweichlichen unerfüllten Tod
vor Augen, alles kommentiert durch Simon, den quasi-emanzipierten Sohn.
Solo-Aktionen, Gruppen-Exaltationen und differenziertes kollektives Handeln
von Schauspielern, Sängern und Musikern sind selten zu erlebende Dokumentationen
von Körperlichkeit auf der Bühne - abseits jeglicher aktionistischer Spekulation,
intensiv bis zur emotionalen Überwältigung.
Unter den Schauspielern faszinieren Jeroen Willems als Simon, der das
vergebliche Suchen seiner Mutter nach Glück kommentiert und nachvollziehbar
erlebt, dass sie ihr eigenes Leben gesucht hat. Der Liesel verleiht -
ja wer denn? - intensivste Glaubwürdigkeit - als Sterbende, als Mutter,
als frustrierte Arbeiterfrau, als sehnsüchtig Liebende, als Opfer der
Verhältnisse im Arbeitermilieu der sechziger Jahre.
Die Gesangssolisten artikulieren die Verdi-Passagen aus Trovatore, Aida,
Don Carlos und Traviata wunderbar elegisch - die höchstenwickelte amplification-Technik
in der Jahrhunderthalle unterstützt die ohnehin vorkommende Stimmkultur
der Opern-Stars Elzbieta Szmytka, Carol Wilson, Dagmar Peckova und Hector
Sandoval aufs Intensivste - Gott sei Dank ist das bei "normalen" Opernauftritten
nicht notwendig, und auch nicht gefragt!
Das Musikerensemble intoniert die von Paul Kolk bearbeiteten Verdi-Arien
äußerst distinguiert, begleitet sonst mit sphärischen Klängen, atmosphärisch
verdichtenden Geräuschen unter Edward Gardner die Szenen des Totentanzes
einer Frau als Paradigma einer untergehenden Kultur.
Weshalb im ansonsten hochinformativen Programmheft die Musiker nach Instrumenten
aufgelistet werden, den SchauspielerInnen die Zuordnung zu ihren Rollen
verweigert wird, bleibt unerfindlich und ist eine kreative Ignoranz sondergleichen:
dagegen gerät die stimmliche Zuordnung der SängerInnen fast zur Marginalie.
Aber das mangelnde Verständnis für Solisten und den Informationswunsch
des Publikums ist ein skandalöses Defizit.
Im Publikum - viele können sich offenbar vom plaudernd-kommentierenden
TV-Verhalten nicht trennen (was nervt und stört) - bekommen auch Hartgesottene
feuchte Augen; die Ergriffenheit gewinnt erst nach einiger Zeit die Kraft
zu enthusiastischem Applaus. Allen Beteiligten wird jedenfalls klar: hier
ist der Tod auf Kohle zu erleben; der Untergang einer Epoche. Und vor
allem: Wie mit Döblins "Biberkopf" Berlin oder Rosselinis "Mamma Roma"
gewinnt die Ruhr mit "Sentimenti" tragische Qualität: der Prozess des
banalen Strukturwandels transzendiert zur leidvollen Zeitenwende! Grandios
und einmalig! (frs) |
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