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Fakten zur Aufführung 

DIE ZWEITE ÜBERRASCHUNG DER LIEBE
(Pierre Carlet de Chamblain de Marivaux)
10. September 2008
(Premiere: 17. November 2007, Theatre Nanterre-Amandiers)

RuhrTriennale 2008
Jahrhunderthalle Bochum


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Lesen oder Lieben?

Das französische 18. Jahrhundert hat es nicht eben leicht auf deutschen Bühnen. Eine Marivaux-Inszenierung ist von daher schon eine Rarität und wenn sie dann noch von einem Spezialisten wie Luc Bondy realisiert wird, eine noch viel größere. Marivaux's "Die zweite Überraschung der Liebe", entstanden 1727, war als Gastspiel des Théâtre Vidy-Lausanne in französischer Sprache an drei (ausverkauften) Abenden im Rahmen der Luc Bondy-Werkreihe der RuhrTriennale in der Jahrhunderthalle in Bochum zu sehen.

Die Theaterstücke Marivaux's sind formal meist recht einfach gestrickt, kommen ohne Ausstattungsschnickschnack aus: entscheidend ist der Dialogtext. Es gibt Anklänge an die italienische Commedia dell'Arte, doch dienen sie neben dem dramaturgisch wirksamen, von Bondy partiell auch slapstickhaft inszenierten, hintergründigen, oft derbem Schabernack des harlekinesken Dienstpersonals dem Kontrast des gesellschaftlichen high and low. Dies, die Intensität von Regie und Schauspielern, nicht zuletzt die deutsche Übertitelung ermöglichte ein herausragendes Theatererlebnis jenseits aller deutsch-französischen Sprachbarrieren.

Im sparsamen und in kühles blaues Licht getauchte Bühnenbild von Karl Ernst Herrmann entwickelt sich in einzigartiger Schwerelosigkeit das Marivauxsche Spiel von Verbergen und Entbergen: ein Steg, symmetrisch begrenzt auf beiden Seiten von zwei schwarzen, beweglichen Häuschen, die sich, im Stil des Barocktheaters sichtbar mechanisch angetrieben, im Laufe des Stückes auf einander zu bewegen – wie die beiden Hauptpersonen, die Marquise (grandios kratzbürstig: Clotilde Hesme) und der Chevalier (mitleiderregend: Micha Lescot). Links wohnt sie, ihr Haus trauerumflort mit einem großen Schleier, indem sie sich zu Anfang verfängt. Ihr Gatte ist gerade verstorben und sie vergeht vor Trauer, die eigentlich eher eine Form von Selbstmitleid und Selbstverliebtheit ist: „Meine Traurigkeit gefällt mir“. Rechts nebenan wohnt der Chevalier, auch er am Ende. Seine Freundin hat ihn verlassen, ist den irdischen Dingen entkommen durch den Eintritt in ein Kloster. Beide jammern im gemeinsamen Garten um die Wette, beide finden schnell Sympathie und Trost im Elend des Andern: „Ein Mensch soll nicht allein sein“. Das Verlassensein bildet die gemeinsame Basis – nach kurzem Geplänkel schwören sie sich schon Freundschaft im Leid. Wie sich die Freundschaft in Liebe verwandelt, wie die Beziehung, erst nach Krisen und intriganten Verwicklungen motiviert durch Narzissmus, Eitelkeiten, Angst vorm Zurückgewiesenwerden, Manipulieren und Manipuliertwerden, zu ihrem Ziel kommt, davon handelt das etwa zweistündige Stück. Dem Chevalier scheint es eher klar zu sein als der Marquise, doch Unsicherheit bestimmt den Diskurs bis zum Schluss. Das Dienerpaar, die Zofe Lisette der Marquise (Audrey Bonnet) und der Diener des Chevalier Lubin (Roch Leibovici) - nebenbei auch ein virtuoser Bühnenradler - kommt unkomplizierter zusammen, sieht die Beziehung ganz pragmatisch, doch abhängig vom Gelingen der Liebe ihrer Herrschaft. Der Philosoph Hortensius - Büchernarr, intellektueller Lehrer der Marquise, eigentlich auch ihr Psychologe, rät zur stoischen Distanz, zur Mäßigung der Gefühle. Ein geregeltes und ruhiges Leben nach den Maßgaben der Vernunft kann besser ohne amouröse Beziehungen gelingen. Pascal Bongart spielt den Philosophen gleich als gescheiterten Gelehrten, buchbeladen, immer servil gebeugt, mit einem Hang zur Melancholie, lebensunfähig – und allein; offenbar doch nicht so recht überzeugt von seinen von Seneca entliehenen Bücherweisheiten. Und: die Vernunft hat keine Chance im Drama der Gefühle. Konsequent ist, dass er am Ende vor die Tür gesetzt wird.

Die inspirierte und brillante Regie Bondys gewinnt ihre Stärke in der Verbindung von Rede und Körpersprache: der Chevalier in Trauer bewegt sich fast in der Waagerechten, so niedergeschlagen ist er, gewinnt erst im Verlauf der Handlung an Haltung. Die Marquise agiert trotz strahlendem Selbstbewusstsein eher fahrig. Der Rivale des Chevalier, der charmant und gewitzte Comte (Roger Jendly) weiß mit seiner galanten Art alle für sich nutzbar zu machen. Die Zofe lebt ganz selbstbewusst im hier und jetzt. Lubin dagegen wird eher unsicher gezeichnet, mit dem Fahrrad in großen Kreisen zirkulierend sind ihm komplizierten Attitüden der upper class ein Rätsel. Ein ganzes Alphabet von Gesten und Haltungen wird aufgeboten, wichtig auch ein Variationsreichtum an Lautgesten: Seufzen, Stöhnen, Schreien, Weinen. All dies dient der virtuosen Darstellung dessen, worauf es Marivaux ankam: „Die Kunst, in den Köpfen der Menschen zu lesen und ihre geheimen Gefühle zu entwirren, ist ein Talent, über das ich verfügt habe.“

Dirk Ufermann