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Fakten zur Aufführung 

JERUSALEM. DIE STADT DER ZWEI FRIEDEN
(Montserrat Figueras, Manuel Forcano, Jordi Savall)
29. August 2009
(Deutsche EA: 27. August 2009)

Jahrhunderthalle Bochum
RuhrTriennale


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Gegen die Beschränkungen des Geistes anspielen

Jerusalem. Die Stadt der zwei Frieden passt konsequent in die Thematik und Dramaturgie des ersten Jahres der neuen Triennaleintendanz von Willy Decker. Um das Leitwort der 'Urmomente' entwickelt Decker Fragestellungen, die die Grundlagen von Spiritualität und Religiosität aufzeigen. Markierte die Eröffnungspremiere Moses und Aron den Ursprungsmoment der monotheistischen Religion, beschreibt Savalls ambitioniertes Jerusalem Projekt - das auf einen Auftrag der Cité de la Musique in Paris im Jahre 2007 zurückgeht und bei der Ruhrtriennale seine deutsche Erstaufführung fand - die drei großen monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam an ihrem markantesten historischen Ort: Jerusalem. Heterogenes Material aus 3000 Jahren (Musik-)Geschichte aus allen drei religiösen Traditionen beschreibt die wechselvolle Geschichte des Ortes und ihrer Bewohner. Es ist im Grunde von Anfang an eine Leidensgeschichte, doch grundiert von der immerwährenden und vielfältigen Hoffnung auf Frieden.
Jerusalem ist historisch–thematisch organisiert in sieben Kapitel, umrahmt von zwei Fanfaren am Anfang und Ende. Die Musik bleibt nicht allein: Texte auf Deutsch, Hebräisch, Arabisch, Lateinisch und Französisch werden rezitiert, um Gesang und Orchesterstücke sicher verorten zu können. Dem dient auch die großflächige deutsche Übersetzung aller Texte auf einer Leinwand hinter den Protagonisten. Auch szenische Momente wie ein Sufi-Tanz sind integriert. Überhaupt wird die Jahrhunderthalle und die in der Höhe gestaffelte Bühne effektvoll für Auftritte genutzt. Die markerschütternde Fanfare des Anfangs ('Posaunen von Jericho', eine historisierende Komposition von Jordi Savall für Schofar, Annafir und Trommel) ertönt martialisch aus allen Richtungen und lässt dem Publikum keine Chance zur Distanz.
Zu seinen beiden Ensembles - das Orchester Hespèrion XXI und das Vokalensemble La Capella Reial de Catalunya – engagierte Savall Gastkünstler aus Armenien, Griechenland, Irak, Israel und Marokko. Archaische Instrumente wie das abrahamische Widderhorn Schofar sorgen für ein ungewohntes Klangbild.
Das erste wie das letzte Kapitel befasst sich mit dem etymologischen Ursprung des hebräischen Wortes Jerusalem: Stadt der zwei Frieden. Kapitel eins bezieht sich auf den prophetischen himmlischen, jenseitigen Frieden jeder der drei Religionen: ein jüdisches Sibyllen-Orakel aus dem 3. Jahrhundert (jüdische Quellen, griechischer Text, aramäische Musik) vertritt ähnliche apokalyptische Vorstellungen wie ein Korantext aus dem 7. Jahrhundert oder eine Musik der Katharer, deren Niederschrift aus dem 12. Jahrhundert sich im spanischen Kloster Las Huelgas befindet. Dann beginnt die chronologische Abfolge mit Kapitel Zwei: Die jüdische Stadt (1000 v. Chr. – 70 n. Chr.) und Kapitel Drei, der christlichen Epoche (326 – 1244 n. Chr.). Ein Intermezzo ist Kapitel Vier mit Jerusalem als Pilgerziel (383 – 1326), das arabisches, jüdisches und christliches Liedgut vereint. Der fünfte Teil fokussiert die arabisch - (1244-1616) osmanische (1517-1917) Zeit. Teil Sechs 'Jerusalem als Stadt des Exils' ist eine bedrückende Sammlung von Klageliedern mit einem abschließenden Trauermarsch für Schofar und Trommel. Das siebente und letzte Kapitel 'Der irdische Frieden. Eine Pflicht, eine Hoffnung' bildet die aus der Musik geschaffene Utopie und bezeugt, wie Savall es nennt, die utopische Kraft der Musik: Friedensgesänge des multinationalen und multilingualen Ensembles auf Arabisch, Hebräisch, Latein, Griechisch, Palästinensisch, Armenisch und Ladino münden in ein gemeinsames improvisiertes Finale, dass die Individualsprachen beibehält, zugleich aber ein gelingendes gemeinsames Chorkunstwerk entstehen lässt. Jordi Savalls an den Anfang anknüpfende und die Aufführung ummantelndende Schlussfanfare bläst mit aller Macht "Gegen die Schranken des Geistes."
Nicht nur die Auswahl der Stücke ist gleich gewichtet, auch die Vorbereitungszeit - wie bei allen Savall-Projekten liegt auch Jerusalem eine musikhistorische Forschungsphase zugrunde - zu jeder der drei Religionen wurde von Savall in gleich lange Intervalle eingeteilt. Das Disparate, der mangelnde Ausgleichswillen durch den je eigenen Absolutheitsanspruch, auch der immanente kriegerische Gestus der Religion, wie ihn etwa der rezitierte Text von Papst Urban II in seinem Aufruf zum Kreuzzug 1095 vertritt, aber auch in Form von christlichen Kreuzfahrerliedern und osmanischen Kriegsmärschen, wird in der Produktion nicht verdeckt. Doch der Abend zeigt auch, dass die Musik der drei Kulturen gar nicht so weit auseinanderliegt: Pessimistisch im Erkennen, optimistisch im Hoffen, so endet der lange Abend. Das wunderbare gemeinsame Konzertieren gibt doch einen Ausblick darauf, wie es einmal in Jerusalem sein könnte.
Musiziert wurde das inszenierte Konzert mit höchster Konzentration und Intensität. Langer Applaus und Standing Ovations für einen zur Reflexion zwingenden und überaus bewegenden Musikabend.

Dirk Ufermann

 






Fotos: © Michael Kneffel