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Fakten zur Aufführung 

HÄNSEL UND GRETEL
(Engelbert Humperdinck)
24. Oktober 2010 (Premiere)

Theater Bielefeld


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Mehr als ein Märchen

Mehr als einen hölzernen Wagen auf vier Rädern können sich Vater und Mutter nicht leisten. Kein erfreuliches Zuhause für Hänsel und Gretel, die beiden Kinder. Und der „Küchenmeister“ heißt in der Regel Schmalhans. Es sei denn, Peter, der Besenbinder, war auf dem Markt erfolgreich und hat seine Produkte an Mann und Frau gebracht – „zu dem höchsten Preise“. Dann purzeln allerlei Köstlichkeiten aus dem Rucksack – und Muttern bekommt eine ordentliche Flasche Eierlikör. Alles im Lot!
Doch wo sind eigentlich Hänsel und Gretel? Da kommt’s raus: die Mutter hat sie fortgejagt. Wegen des zerbrochenen Milchtopfes. Nach Ilsenstein, dort wo die Knusperhexe ihr Unwesen treibt. Da droht Gefahr. Also sofort hinterher. Gertrud schnappt sich das Gewehr. Und los geht’s: Peter und seine Gattin zwängen sich durch die Reihen des Bielefelder Theater-Parketts.
Die Geschichte von Hänsel und Gretel bleibt in der Lesart von Regisseur Johannes Weigand ein Märchen, er erzählt es aber ohne jede Patina, nicht als verstaubtes Relikt von vorgestern, sondern quicklebendig und durchaus mit sehr heutigen Accessoires. Eine Inszenierung, die wahnsinnig viel für die Augen bietet, die bis hinein in kleinste Details durchdacht, lustig, komisch, anrührend, begeisternd, liebevoll, melancholisch ist. Mutters Strumpfhose auf Hänsels Kopf etwa, oder Hänsels cooler Rap („einmal hin, einmal her, rundherum das ist nicht schwer“), der zwischendurch immer wieder mal zuckt. Die Szene im Wald ausgestattet mit einfachen, aber sinnfälligen Mitteln (freundliche Natur – projiziert auf den Gaze-Vorhang; unheimliche Natur – mit Nebelschwaden und bedrohlich funkelnden Tieraugen) - dann der Aufzug der Schutzengel nach dem „Abendsegen“: nach und nach versammeln sie sich um das schlafende Geschwisterpaar, begrüßen sich jeweils mit Handschlag, kommen aus allen Ecken des Theaters, jeder von ihnen eine Art Charlie Chaplin-Kopie mit Melone und Schnauzbart. Ein Kopfkissen und ein Oberbett für die unerwartet im Wald nächtigenden Kinder sind schnell gefunden. Die Sterne werden installiert, zum Schluss kommt der weiß strahlende Mond. Auch der Sandmann, in einer Art Tretboot anreisend, hat ja sein Werk vollbracht Alles ist gut!
Das Drama beginnt am nächsten Morgen, nachdem das frisch herbei geradelte Taumännchen sowohl den Engeln als auch Hänsel und Gretel den Schlaf aus den Augen gesprüht hat. „Knusper, knusper, knäuschen“ – Rosina Leckermaul hat ihr nächstes Opfer erspäht. Sie sitzt in ihrem attraktiven Baumhaus, zweifellos errichtet von einem der führenden deutschen Herstellern von Süßigkeiten. Kapotthütchen, Handtasche, makelloses Kostüm – fast so etwas wie eine Queen! Doch diese Verkleidung ist ziemlich bald abgestreift und das Weib gibt sich als das zu erkennen, was es ist: eine Hexe, die sogar auf dem Besen reiten kann. Ihr Ansinnen, Hänsel zu fangen und in einem Käfig zu mästen, bis er schön fett geworden ist, wird sich bekanntlich nicht erfüllen. Stattdessen landet das Biest im Backofen – und erlöst sind all jene Kinder, die in der Vergangenheit Opfer der Hexe geworden waren.
Johannes Weigands Inszenierung ist einfach wunderbar, die fantasievolle Bühne und die Kostüme von Markus Pysall nicht minder. Sebastian Ahrens kreiert zudem eine subtile Lichtregie, die atmosphärische Dichte liefert. Gespielt und gesungen wird ganz ausgezeichnet: Hans Christoph Begemann ist ein fürsorglicher Vater mit kraftvoll-kernigem Bass, Sarah Kuffner seine Frau Gertrud, die in ihrer Darstellung durchaus noch etwas wütender dort sein dürfte, wo sie sich über ihre Kinder ärgert. Stimmlich nämlich hat sie durchaus das Potenzial dazu. Rebecca de Pont Davies gibt die Knusperhexe, taucht mit Haut und Haar ein in diese teuflische Rolle – und endet nicht als Lebkuchen sondern als überdimensionales Haribo-Konfekt! Erstklassig ist Mélanie Forgeron als kraftstrotzender, selbstbewusster Hänsel mit sehr schön abgedunkeltem Mezzo-Timbre und ungebändigter Spiellaune. Dieselbe Vitalität mobilisiert auch Cornelie Isenbürger als Gretel, deren klarer, lupenreiner Sopran keine Wünsche offen lässt.
Zwei kleine Rollen kommen an diesem Abend ganz groß heraus: Barbara Majewska, Studentin an der Musikhochschule Detmold, ist das Sandmännchen und lässt dazu ihren samtweichen, sehr sonoren Mezzo verströmen. Cosima Henseler, ebenfalls Studentin in Detmold, übernimmt die Rolle des Taumännchens mit überzeugender schauspielerischer Gestik und fabelhafter Stimme. Toll, dass die Bielefelder diese beiden Nachwuchs-Sängerinnen in dieser Produktion engagiert haben. Sie passen perfekt hinein.
Ganz toll mit machen auch die Kinder der Ballettschule des Theaters Bielefeld (Ltg. Maria Haus) und die von Olga Kisseleva einstudierten „Chorinis“, das ist der 2009 ins Leben gerufene Nachfolgechor der „Bielefelder Singschul’“ – ein Gemeinschaftsprojekt der Musik- und Kunstschule Bielefeld und des Theaters.
Am Pult der Bielefelder Philharmoniker steht deren Kapellmeister Witolf Werner, der schwelgerisch-sinfonische Forte- und Fortissimo-Klänge entwickelt, insgesamt aber immer ein klein wenig zu laut und im Verhältnis zu den Solisten zu dominant wirkt. Verbesserungswürdig vor allem zu Beginn auch die Intonationssicherheit im hohen Holz. Da gibt es mehr als einmal äußerst dissonante Momente.
Im Theater ist die Spannung, die Freude und die Begeisterung groß. Vor allem das junge Publikum (immerhin verfolgen etliche Kinder die Premiere) ist vom Ideenreichtum der Inszenierung angetan, auch davon, dass mitunter mitten im Parkett oder im 2. Rang gespielt und gesungen wird. Man sitzt sozusagen mittendrin.
Riesig der Jubel schon zur Pause, noch üppiger dann der Schlussapplaus.

P.S.: Das Programmheft ist nicht nur Programmheft sondern auch Bastelbogen: mit dem Opernpersonal und Dekorationsteilen zum Ausschneiden. Wer mag, kann sich daraus ein Spielzeugtheater basteln, es anschließend fotografieren und diese Fotos ans Theater schicken. Die werden dann auf der Homepage des Theaters veröffentlicht!

Christoph Schulte im Walde

 











 
Fotos: Matthias Stutte