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Fakten zur Aufführung 

CARMEN
(Georges Bizet)
23. Januar 2010 (Premiere)

Theater Bielefeld


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Kein Ort für Liebe

Helen Malkowsky, designierte Bielefelder Operndirektorin, präsentiert eine Carmen als Liebe suchende Domina in einer zwanghaft sex-suchenden Gesellschaft – lässt sie auf einen José treffen, der die Spielregeln manischer Sexual-Rituale nicht begreift, mit einer Micaela, die die Mechanismen der Perversitäten durchschaut, aber mit ihren tradierten Verhaltensweisen keine Chance für humane Moral bekommt.

Szenisch genial: Die Geschichte findet ihren Ausgang in einer Hochzeit des Offiziers Zuniga, dessen Braut von der Affäre mit Carmen erfährt – voyeuristisch verstärkt durch gebeamte Bilder einer Liebesnacht, in einer Hochzeitsgesellschaft, die sich als hemmungslos brutaler Swinger-Club entpuppt. Der Superstar Escamillo dominiert die Szene, lässt im Sex-Wahn der Gesellschaft der entstehenden intimen Liebe zwischen den so verschieden konditionierten Carmen und José keine Chance. Geradezu atemraubend sind die Orte ohne Liebe zu erleben – eine sinnlich prickelnde Apotheose einer unbegriffenen Sex-Society in der Nachfolge phantasmagorischer de Sade-Vorstellungen – allerdings ohne reflektierende Überhöhung: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Großes Musiktheater mit fundamentaler Kritik einer aus den Fugen geratenen Sexomanie!

Harald B. Thor stellt das Architektur-Denkmal einer zugrunde gegangenen Zigarettenfabrik auf die Bühne – morbid, aber chices Ambiente einer obszön sich selbst feiernden Gesellschaft. Gesellschaftskritik wird optisch nachvollziehbar – verstärkt durch schamlos-schamhaft präsentierte Kostüme von Tanja Hofmann.

Frances Pappas ist als ambivalent suchende, demonstrativ dominierende, andererseits subtil zärtliche Carmen weit ab von allen immer wieder variierten Charakteristiken der „klassischen“ Figur: Ein hoch intensiver Auftritt mit großer stimmlicher Kompetenz – ohne blasierte Performanz, dafür mit rollenspezifischem Ausdruck, zwingendem Ausdruck in der Mittellage, intonationssicheren Tiefen, beeindruckender Sicherheit in kalkulierten Höhen – dabei mit interpretierender Musikalität. Mit Emmanuel Di Villarosa ist ein hingebungsvoll agierender Underdog José zu erleben – stimmlich permanent präsent, lyrisch in seiner großen Arie, dramatisch in Liebe, Verzweiflung und unbegriffener Emotionalität – eine variable Stimme, die der Rolle verpflichtet ist: eine hinreißende Präsentation einer ausdrucksstarken Stimme! Victoria Granlund ist die scheinbar prinzipientreue Micaela, überzeugt darstellerisch mit reservierter Gestik, bringt ihre stimmlichen Möglichkeiten sensibel ein und vermittelt mit ihrem wandlungsfähigen Sopran intensive Emotion. Cornelia Isenbürger und Sarah Kuffner brillieren als intermittierende Frasquita und Mercedes; Alexander Marco-Buhrmester gibt einen selbstbewusst-machohaften Escamillo, gibt ihm unwiderstehliche baritonale Power und beeindruckt mit ungemein flexiblen Ausdrucksmöglichkeiten. Das Bielefelder Ensemble überzeugt auch in den „kleinen“ Rollen – Torben Jürgens als Zuniga, Lassi Partanen als Dancairo, Dirk Mestmacher als Remendado, Tae-Woon Jung als Moralès und Saskia Wischmeier als Manuelita; der Chor (Leitung Hagen Enke) und die „Chorinis“ – der Bielefelder Opern-Kinderchor – leisten wunderbare kollektive Aktion und singen in beeindruckender Abstimmung.

Leo Siberski ist ein ungemein sensibler Dirigent mit viel Gefühl für die so vielschichtige Bizet-Musik, orientiert an der kritischen Inszenierungs-Idee, fordert die Einzel-Instrumente, setzt auf die Instrumentengruppen, integriert eine illustrierende Jazzband - aber den durchaus aufmerksam folgenden Bielefelder Philharmonikern fehlt der entscheidende geniale Impetus: perfekt, zu brav, ohne leuchtende Brillanz!

Und so das ostwestfälische Publikum: insgesamt gespannte Aufmerksamkeit, aber einige Provinzheinis mit murmelnden kommentierenden Bemerkungen, Kichern zur Unzeit - viele jubelnde Artikulationen am Ende; und ein partout verhängender Vorhang zum Höhepunkt der kollektiven Begeisterung: Was soll man dazu sagen ?!

Auf alle Fälle: Diese Carmen ist weiteste Reisen wert!

Franz R. Stuke

 







 
Fotos: © Matthias Stutte