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Fakten zur Aufführung 

JEANNE D'ARC
(Walter Braunfels)
27. April 2008 (Szenische Uraufführung)

Deutsche Oper Berlin


Points of Honor                      

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Ambivalente Passion

Mary Mills ist eine komplex-differenzierte Johanna – naiv, gläubig, charismatisch, spielt die Stadien ihres Opfergangs durchaus distanziert, aber mit konzentrierter innerer Leidenschaft. Ihre Stimme vermittelt mit gefühlvoll-differenziertem Klang sowohl die mädchenhafte Unschuld, die unbegriffene „Berufung“, die emphatische Leidenschaft als auch die bewegenden Lamenti und den hilflos-selbstbewussten Widerstand. Mit Morten Frank Larsen als moralisch zweifelhaftem Gilles de Rais, Paul Kaufmann als treuem Freund Colin, Ante Jerkunica als patriarchalisch dominanten Jacobus von Arc, dem stimmsicheren Lenus Carlson als Tremouille und dem überzeugenden Jörg Schörner als Alencon ist sie von hoch kompetenten Sänger-Darstellern „umstellt“ - und ein hingebungsvoll agierendes und differenziert singendes Solistenensemble (es sind mehr als zwanzig musikalisch anspruchsvolle Rollen zu besetzen!) komplettiert die erfolgreich-aufwendige Arbeit an der Deutschen Oper Berlin. Und – Garanten für den spektakulär-kollektiven Erfolg: der Staats- und Domchor Berlin (u.a. mit einem phantastischen Kinderchor!) und die außergewöhnlich geforderte Statisterie der Deutschen Oper.

Das Orchester der Deutschen Oper Berlin interpretiert die facettenreiche Komposition des genialen Komponisten Braunfels aus den 30er Jahren unter dem souveränen Ulf Schirmer mit faszinierender Leidenschaft, beeindruckt mit emotionalisierender Dynamik, variablen Tempi, eindrucksvollem Zusammenspiel der Instrumentengruppen und imaginierenden Soli - und dies alles in beglückender Übereinstimmung mit dem frappierenden Bühnengeschehen und der Idee der „ambivalenten Passion“ Jeanne d’Arcs!

Das irritierend-zwiespältige Zusammen und Gegeneinander von wieder belebten Heiligen, einer bornierten herrschenden Adelsklasse, einem aggressiven Klerus, einer bevormundeten Gesellschaft – und das alles fokussiert auf die Identifikations-Figur Johanna: Das ist Material für Christoph Schlingensiefs „Animatographen“, für seine theatral-kommunikative Vorstellung einer Trash-Gesellschaft mit kontrastierenden Ingredienzien aus dem profanen Alltag, Verweisen auf kulturelle Metaphern, Zitaten unterschiedlichster Provenienz, platt-verblüffende Metaphern aus Natur und (gescheiterter) Zivilisation - sowie der Integration unterschiedlichster filmischer und bühnen-konkreter Aussageformen. Anna Sophie Mahler, Sören Schuhmacher und Carl Hegemann übernehmen die detaillierten Aufzeichnungen des schwer erkrankten Schlingensief, realisieren dessen unbändige Vorarbeiten, verlassen sich dann aber im zweiten Teil der Oper auf die Mittel avancierten Musiktheaters, ohne Schlingensiefs Ingenium zu kopieren, noch zu konterkarieren.

Thomas Goerge und Thekla von Mülheim bauen eine Bühne mit turmartigen Stahlkonstruktionen, mit variablen Spielräumen, mit plakativen Elementen, mit Flächen für kommentierend-verstärkende Filmprojektionen – lassen die verbrannte Johanna aus einer Torte „auferstehen“, arbeiten mit ironisierenden selbstreferentiellen Transparenten und schaffen differenzierte Räume für spektakuläres Bühnenhandeln, verweisen permanent auf gebrochene kommunikative Zusammenhänge - und bieten ein schier unfassbares Angebot von optischen Wahrnehmungsmöglichkeiten.

Dieses nur scheinbare Tohuwabohu historischer Zusammenhänge, individueller Reaktionen, changierender Bedeutungen, kalkulierter Reaktionen, offener Kommunikation findet im erlebnishungrigen Premierenpublikum äußerst positive Resonanz: Diese kommunikativ-gebrochene Form der Vermittlung existenzieller Inhalte trifft offenbar sowohl auf das Suchen nach alternativen Darstellungsformen als auch auf das Bedürfnis nach spirituellen Botschaften zu Zeiten brutaler neoliberal-ökonomischer Gewalt. „Wir haben eine Heilige verbrannt“ ist nicht eine vatikaneske Doktrin-Variante, sondern wird als Suche nach transzendierenden Werten verstanden.

Lang anhaltender, intensiver Beifall für die Protagonisten, für Schlingensiefs überwältigende Ästhetik, für das kongeniale Regie-Team - und für das großartige spätromantisch-expressionistische Braunfels-Werk! (frs)