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Fakten zur Aufführung 

LA BOHEME
(Giacomo Puccini)
27. Februar 2008
(Premiere: 16. Dezember 2001)

Staatsoper Unter den Linden Berlin


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Freude und Reue

Zeitlos bezwingend das Inszenierungskonzept Lindy Humes: der alte Rodolfo blickt zurück, erinnert sich an den Bruch von überheblicher Freude zu existenzieller Reue; „Nostalgie“ wird zur menschlich-erschütternden Reflexion über verpasste Liebe. Mit welcher Intensität Lindy Hume die „reuigen“ Bohemiens agieren lässt, das ist in emotionaler Bewegung und Gestik von höchster theatraler Kraft. Zudem: der Geist der Künstler-Ambivalenzen des so unterschätzten Murger wirkt mit – und die sozialen Abhängigkeiten der Beziehungen zwischen den Künstlern und ihren Geliebten (vulgo „groupies“) werden deutlich. Man fragt sich, weshalb eine so kreativ-sensible Regisseurin keine weitere Rolle im deutschen Opern-Leben spielt.

Dan Potras Bühnenbild entspricht den reflektierten Erinnerungsebenen, schafft im ersten Akt eine naturalistisch-malerische Szene, verfremdet das Café Momus zu einem modernistisch-variablen Raum gebrochener Kommunikation, zeigt die Zollschranke als unwirtlichen Ort vorgegebener Hoffnungen und decouvriert mit dem zerstörten Anfangsbild die pseudo-freudige Erinnerung.

Das Wegwerfen der Schneekugel durch den alten, bereuend-reminiszierenden Rodolfo wird zum elementaren Wendepunkt der ergreifenden Geschichte – optisch deutlich, als konkretes Symbol nachvollziehbar.

Mit Arturo Chacon-Cruz agiert ein ambivalent spontan unverantwortlicher und erschütterungsfähiger Rodolfo – und gibt diesen Gefühlen grandiose Stimme: ein Tenor von stupender Selbstverständlichkeit, mit faszinierendem Legato, mit einer enorm ausdrucksfähigen Mittellage und strahlend-ausdrucksvollen Höhen. Sensationell! Alexia Voulgaridou gibt der Mimi sehnsüchtig-verlangenden Charakter, beeindruckt durch gehauchte Piani, großartige sängerische Bögen, vermittelt mit sensiblem Timbre lamentoartige Emotionen. Anna Samuils Sopran ist in Ausstrahlung und souverän-flexibler Phrasierungskunst eine realitätsbewusste Musetta. Alfredo Daza singt mit einem kraftvoll ausdrucksstarken Bariton einen machohaft zweifelnden Marcello. Arttu Katajas Schaunard beeindruckt mit darstellerischer Präsenz und vermittelt stimmlich kompetent lustvolle Freude am „fröhlichen“ Leben. Alexander Vinogradovs Mantel-Arie des Colline wird zur emotional bewegenden Solidaritäts-Hymne für den nostalgisch verklärenden Versager in Sachen menschlicher compassion. Nicht zu vergessen: das brillant subversive Porträt des geilen Hauswirts Benoit durch Gerd Wolf.

Der emotional-konkrete Gustavo Dudamel ist der Staatskapelle Berlin ein motivierend-differenzierender Leiter: da gibt es keine sentimentalen Puccini-Klischees, da wird die Musik des Komponisten im Zeitbruch von Alters-Verdi, Verismo und „Moderne“ transparent, da stimmt die musikalische Konsonanz mit dem Bühnenhandeln überein, da gibt es klang-idente Balance zu den faszinierenden Stimmen auf der Bühne.

In der Linden-Oper ist mehrheitlich ein Publikum versammelt, das den Besuch als gesellschaftliches Ritual versteht. Man gibt sich kritisch-überlegen, lässt sich aber dann doch zu distanziert-begeistertem Applaus hinreißen. Die Linden-Oper als Wallfahrts-Ort für unbegriffene Stimm-Fetischisten -- das kann’s wohl nicht sein. (frs)

 

 




Fotos: Staatsoper Unter den Linden