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Fakten zur Aufführung 

ALEKO
Sergej Rachmaninow
JOLANTHE
Peter Tschaikowsky
21. Juli 2009
(Premiere 18. Juli 2009)

Sommerfestspiele Baden-Baden
Festspielhaus Baden-Baden


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Mythen und Melancholie

Gemeinsam ist beiden Opern die Uraufführungszeit: Tschaikowskis Jolanthe 1892 in Petersburg, Rachmaninows Aleko 1893 in Moskau. Gemeinsam ist ihnen aber auch der mystisch-melancholische Inhalt der tragischen Geschichten – und gemeinsam ist ihnen der spätromantische Duktus der Musik: geradezu aufregend versetzt mit „neuen“ Tönen und erregender Dynamik und dramatischer Instrumentalisierung bei Rachmaninow, dagegen in gleichmäßig-melodiösem Strömen bei Tschaikowski, ohne abrupte Brüche und ohne jegliche Verweise an russische Folklore.

Doch bietet Tschaikowskis Jolanthe eine Paraderolle für lyrisch-dramatischen Sopran - wie für Anna Netrebko „gemalt“. Die Netrebko gibt der naiv-ergebenen blinden Jolanthe (die von ihrer Blindheit nicht weiß, ihr Sehen als neuen Glauben an das Licht geradezu verzückt begreift) anrührende Gestalt, vermag ihre warme Stimme in Zweifel und strahlende Hoffnung zu variieren, gerät dabei niemals in Gefahr, ihre Stimme „auszustellen“, vermittelt vielmehr geradezu authentische mädchenhafte Emotionalität mit dem Wissen um weibliche Erotik in ihrer magischen Faszination. Wieder zeigt es sich: Das Mainstream-orientierte Marketing wird dem real existierenden, darstellenden und singenden Menschen nicht gerecht. Anna Netrebko ist kein Vamp mit Diva-Allüren, sie beeindruckt als fragiler Charakter mit hinreißend-bewegender stimmlicher Genialität!

Mit Pjotr Beczala hat die Netrebko einen kongenialen Partner: einen Tenor mit ungemeinem Gefühl für die Übergänge von einschmeichelnder Lyrik zu aufbrausender Dramatik, dabei stupend ausdrucksstark in den leisen Tönen und beeindruckend sicher in den strahlenden Höhen. Die Sänger der Petersburger Mariinsky-Oper präsentieren markanten Tschaikowski-Gesang – Sergey Aleksashkin als sonorer Rene, Alexei Markov mit ausdrucksstarkem Bariton als Robert, Edem Umerow mit geheimnisvoll-magischer Attitüde als Maurischer Arzt – sowie die weiteren SolistInnen mit handlungs- und stimmsicheren Porträts der ambivalenten Figuren.

Valery Gergiev leitet mit nachhaltiger Intensität das perfekte Orchester des Mariinsky-Theaters St. Petersburg zu einem durchgängig lyrischen Klang, kommuniziert sensibel mit den Protagonisten, lässt Melancholie permanent hörbar werden.

In Rachmaninows Aleko zeigt dieser omnipräsente Dirigier-Guru mit „seinem“ Orchester seine unnachahmliche Fähigkeit zu frappierender Flexibilität: Da wechseln die Tempi in dramatischer Intensität, da entwickelt sich eine faszinierende Dynamik, da wird Musik zum elementaren Erlebnis!

Mit Veronika Djioeva ist eine attraktiv-erotische Zemfira – die Tochter der schnöde verlassenen Mariula – fasziniert durch einen sinnlich-ausdrucksstarken Mezzo, mit betörenden Tiefen und unangestrengt sicheren Höhen. Der kollektiv moralisch herausgeforderte Aleko findet in John Relyea einen großartig agierenden Darsteller, einen Sänger mit prägnantem Timbre, dramatischen Höhen und eindringlicher Mittellage. Sergey Aleksashkin demonstriert als Zemfiras frustriert-rachedürstender Vater seine stimmlichen Ausdrucksmöglichkeiten, und Sergey Sorokhodov lässt als liebender Junger einen aufmerksamkeitserregenden Tenor hören. Elena Vitman beeindruckt als warnende Zigeunerin.

In beiden Opern bestätigt der Chor des Mariinsky-Theaters seinen Ruf als außerordentlich differenziert singendes Kollektiv!

Mariusz Trelinski inszeniert das Zigeuner-Drama Aleko als gesellschaftliches Gewaltsystem, macht die Zeitlosigkeit des Dilemmas einer anarchischen Gesellschaft mit dem Tabu des Tötens deutlich - vermag aber in der Jolanthe nicht mehr als ein betuliches Kammerspiel zu entwickeln.

Boris Kudicka arbeitet in der Jolanthe mit beherrschenden Gitterwänden, interpretiert die existenzielle Konfrontation von Kollektiv und individueller Existenz – bedrängend und emotional nachvollziehbar. In der Jolanthe verbleibt das kreative Bemühen beim kammerspielartigen Demonstrieren enger Räume – ohne assoziative Herausforderungen.

Das Baden-Badener Festspielhaus ist bis auf den letzten Platz gefüllt, vor dem Musentempel mehr als ein Dutzend Busse: Das kreativ-nachhaltige Konzept Baden-Badens wird zur erfolgreichen Realität. Na klar: Anna Netrebko ist ein Signal – aber die eher unbekannten Opern schrecken nicht ab, werden vom Angebot zu begeisterter Zustimmung – und viele Menschen erleben einen „festlichen Abend“. Im übrigen auf höchstem Niveau - und im Dienst unkonventionellen Musiktheaters!
Franz R. Stuke

 














 
Fotos: Andrea Kremper