|
Die Botschaft vom Ende
Nigel Lowery demonstriert die Katastrophen dieser Welt äußerst drastisch: brutale Terroristen, scheinheilige Fromme, geile Diktatoren, getarnte Betbrüder, religiöser Wahn, Naturkatastrophen, menschliche Gemeinheiten – das alles beherrscht vom Geld - und von der verlogenen Ideologie „der besten aller Welten“! Lowery lässt das menschliche Desaster über Funksprüche einer späteren Welt verkünden, diminuiert die Handlungsorte, „dekonstruiert“ ganz konkret: pars pro toto-Elemente von historisierenden Fassaden, ins Nichts führende Türen und Tore, skurril überzeichnete Räume der „Zivilisation“, miniaturisierte Polizeiautos als Ikonen von Recht und Ordnung, ein Quietsche-Entchen als Schiff nach Venedig. Ein grandioser coup de theatre als finales Signal: Die „Außerirdischen“ verlassen mit ihrer Botschaft vom Ende eines Evolutions-Irrtums den Planeten – die feiernd das Glück im eigenen Garten vor dem sterilen Plattenbau Überlebenden, werden von einem herabstürzenden schwarzen kopfförmigen Meteoriten zermalmt - es könnte der Chemnitzer Marx-Kopf sein: aber so direkt politisch wollte es Nigel Lowery wohl nicht - da stehen ihm distanzierter Zynismus und Monty-Python-Witz wohl näher.
Musikalisch wird der animierende Yannis Pouspourikas mit den äußerst engagierten Instrumentalisten des Symfonisch Orkest van de Vlaamse Opera mit dem radikalen Inszenierungskonzept adäquat fertig: da krachen die Dissonanzen, da vibrieren die dramatischen Effekte, da kulminieren pathetische Konstellationen zu triumphalen Hymnen – um dann, abrupt, am Überschwang zu zerbrechen! Das ist Bernstein-Interpretation par excellence - weit weg von verharmlosendem Musical-Sound, dafür voller Leidenschaft für die so existentiell bedeutsame „Botschaft“!
Und dies alles wäre ein Nichts ohne die geradezu subversiv persuasiv-ironisierenden Solisten: ein Ensemble in selten erlebter Kongruenz der so diffizilen Rollen-Interpretationen.
Graham Valentine gelingen nachgerade atemraubende Karikaturen des philosophischen Welt-Erklärers Pangloss (der seinen eigenen Sprüchen nicht traut) – mit einer Artikulation, die eben nur Graham Valentine hinkriegt: ein verrücktes horgy-porgy-Englisch mit faszinierenden zynischen Untertönen! Jane Archibald erotisiert als sexy Cunegonde, beherrscht die geforderte Stimm-Akrobatik mit Bravour, und zelebriert „Glitter and Be Gay“ als Welt-Hit! Mit Michael Spyres ist ein parzivalesker Candide zu beobachten, der in all seiner Naivität permanent von haarsträubenden Katastrophen überrascht wird, seinen unbegriffenen Glauben an das vermaledeite „Gute“ nicht verlieren will - und stimmlich diese „Unbelehrbarkeit“ ausdrucksstark umsetzt, mit beeindruckender Kraft, bemerkenswertem Volumen, und vorzüglicher Phrasierungskunst. Katarina Bradic gibt eine laszive Paquette, nutzt ihre kurzen Solo-Partien zur Demonstration ihrer leuchtend-höhensicheren Stimme. Und dann Karan Armstrong als Old Lady: umwerfende klischee-ironisierende Komödiantik, stimmlich mit frappierenden Register-Wechseln – mit nachgerade ordinär-expressiver Bruststimme, schwebend in den „elegischen“ Passagen: eine überzeugende Charakterstudie! Das Ensemble der Vlaamse Opera vollbringt eine bemerkenswerte Gesamtleistung: jede Rolle ist typengerecht besetzt, Darstellung und Gesang werden zum Triumph jedes Einzelnen – und des wunderbar spielfreudigen Chors mit seinem animierend-kommentierenden Gesang!
Das so bewundernswert heterogene Publikum in der historisch tradierten Oper Antwerpen – Junge und Alte, Connaisseurs und Newcomer, festlich Gestimmte und Event-Orientierte – braucht einige Zeit, um sich auf die radikale Persiflage des eigenen Betroffenseins einzulassen – bei manchen funktionierte das erst mit dem letzten Bild. Aber: permanente Aufmerksamkeit während der mehr als zweieinhalb Stunden, intensiver Applaus nach Schluss, viele Jubel-Schreie - aber der Beifall für den genialen Regisseur, Bühnenbilder und Kostüm-Entwerfer Nigel Lowery hätte schon enthusiastischer sein können!
Für Bernstein-Freaks ist die Reise nach Antwerpen allerdings Pflicht – am besten kombiniert mit dem 700 km entfernten so ganz anderen Candide in Dessau!
Franz R. Stuke
|
|