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Fakten zur Aufführung 

CARMEN
(Georges Bizet)
22. Juni 2009
(Premiere: 15. Juni 2009)

Het Muziektheater Amsterdam
De Nederlandse Opera
Holland Festival


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Die Stierkampfarena als Lebensraum

Streicherklänge von überirdischer Sanftheit, Flöten mit zauberhafter Zartheit, die Holzbläser mit selten gehörter Klarheit, das Blech geschmeidig ohne den Hauch von Desorientierung, das Schlagzeug punktgenau mit für nicht gehaltener Differenzierung, dazu eine Harfe mit Klängen wie aus einer anderen Welt – überfallartig in den forte-tutti, hochsensibel im Zusammenspiel, sensibel-variabel in sinngebender Dynamik, dabei souverän in den luziden Tempi-Wechseln -- und dies alles in traumhaft sicherer Kooperation mit dem Gesang auf der Bühne: Beim grandiosen Koninklijk Cocertgebouworkest wird absolute Perfektion zum magischen Musik-Ereignis! Marc Albrecht – der neue Musik-Chef der Nederlands Opera und des Nederlands Philharmonisch Orkest – leitet diesen extraordinären Klangkörper zu hinreißendem Spiel!

Michael Levine baut die aficionado-Seite einer Stierkampfarena mit sensationellen 500 roten Sitzschalen und der sandigen Kampffläche im Vordergrund auf die riesige Bühne.

Damit sind die Gegebenheit für Robert Carsens ambitionöses Inszenierungs-Konzept gegeben: Die Arena ist der Lebensraum des Volkes, Spielplatz der Kinder, Freizeitareal der Arbeiterinnen, Exerzierplatz der Soldaten – abgedunkelt Versammlungsort der Schmuggler, schließlich Ort des Show Downs eines Spiels mit unbegriffenen Ritualen, reglementierten Vorgaben mit gnadenloser Abstrafung der Verstöße. Micaela steht da als Einzige außerhalb, hilflos das Geschehen beobachtend, das wie vorherbestimmt abläuft ohne Rücksicht auf individuelle Versuche – wie ein Stierkampf, bei dem nach allen hypostasierten „edlen“ Zielen der Tod des Stiers feststeht. Carsens ingeniöse Regie verbindet überwältigende Massenszenen mit fast kammerspielartigen zwischenmenschlichen Beziehungen in ihrer ausweglosen Verzweiflung – orientiert sich bei der Präsentation der Charaktere an den eindeutigen musikalischen Vorgaben!

Das plakative „Massen-Spektakel“ á la Bregenz oder Verona wird zum bewegenden Kampf um menschliche Würde.

Nadia Krasteva ist eine vor Erotik berstende Carmen – aber niemals ein Sexual-Objekt oder eine laszive „Männer-Mörderin“; sie verbindet weibliche Sehnsucht nach Akzeptanz mit unbändigem Selbstbehauptungswillen – im latenten Bewusstsein des Scheiterns. Ihr tief timbrierter ausdrucksvoller Mezzo vermag mit magischen dunklen Tönen und rasantem Prüfen der tonalen Grenzen eine Carmen mit bleibender Wirkung zu entwickeln. Genia Kühmeier kontrastiert mit makellosem chromatischem Wohlklang, singt mit perfekter Leidenschaft, vermittelt Hoffnung und moralische Verbindlichkeit in einer scheinbar verbindlich regulierten Gesellschaft, reißt hin mit stimmlich vermittelter Emotionalität – ohne Anleihen in unverbindliche „Lyrik“ – eine „Alltags-Heldin“, eine Hoffnung für die Zukunft (sowohl als Micaela im Stück als auch als Interpretin auf den Opernbühnen der Welt). Mit kraftvoll-durchsetzungskräftigem Tenor ist Yonghoon Lee als José zu erleben; ein getriebener Charakter mit existenzieller Angst vor den zu erwartenden Katastrophen, stimmlich von beeindruckender Kraft, mit ungemein sicheren Höhen, überzeugenden Piani und einer modulationsreichen Mittellage – ein emotional gescheiterter José mit einer Stimme, die in ihrer individuellen Charakteristik keine Konkurrenz scheuen muss!

Kyle Ketelsen überzeugt als stimmlich variabler Escamillo, beeindruckt mit variablem Bassbariton als charismatischer „Volksheld“, demonstriert aber auch mit differenzierendem Spiel und entsprechender Phrasierung die Ambivalenz des Toreadors . Ob das Schwenken weißer Tücher im Arena-Rund als Verachtung gewertet werden muss (wie das beim spanischen Stierkampf Usus ist) oder vom Regisseur als Jubel verstanden wird - so wie auch die capa-schwingende Carmen als Toreador und der schwarz gekleidete Jose als todgeweihter „Stier“ gedeutet werden kann. Aber auch diese Klischees bleiben am Ende ambivalent.

Roberto Accurso als Dancaire, Marcel Reijans als Remendado, Nicolas Teste als Zuniga, Igor Gnidil als Morales sowie Renate Arends und Nora Sourouzian als Frasquita und Mercedes präsentieren engagiertes Musiktheater-Spiel und prononzierten Gesang in absoluter Stimmkultur – und der Koor van De Nederlandse Opera unter Leitung von Martin Wright wird mit dramatischem Gesang und großer Spielfreude zur „Basis“ des großartigen Geschehens.

Im Publikum versammeln sich offenbar viele „Neugierige“, die von sex and crime gehört haben, weniger an den diffizilen Regie-Aktivitäten noch an den sensationellen Orchester-Klängen interessiert sind, vielmehr ein spektakuläres Event erwarten. Für das so kultivierte Amsterdamer Publikum höchst ungewöhnlich - trotz „kultureller Bildung“ schon an den Grundschulen ein verstörendes Signal für kommende Konventionen. Dabei vereint das Holland Festival unbeirrbar nachdenkliche Interessierte – Carsens Carmen ist da kein Gegensatz, findet aber wohl beim breit propagierten open viewing der Aufführung am 25. Juni ein voyeuristisches Publikum. Es ist ein schmaler Grat, auf dem das publikumsorientierte Musiktheater wandelt! (frs)