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Fakten zur Aufführung 

NIJINSKYS TAGEBUCH
(Detlev Glanert)
6. April 2008 (Uraufführung)

Theater Aachen


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Ich bin allezeit dein, ich bin allezeit in dir

Waslaw Nijinsky muss ein begnadeter Tänzer gewesen sein, ein Faszinosum. Er hat, um mit dem berühmten Diaghilev in dessen „Ballets russes“ zusammen zu arbeiten, Russland verlassen, hat in Paris Strawinskys „Sacre“ getanzt, wirkte bei Debussys „Jeux“ mit. Ein echter Star war dieser 1890 in Kiew geborene Nijinsky – und ist jetzt die zentrale Figur in Detlev Glanerts jüngstem Bühnenwerk, in Auftrag gegeben vom Theater Aachen.

Wobei es aber eigentlich „nur“ um einen ganz begrenzten Zeitraum in Nijinskys Leben geht: um ein paar Wochen, in denen der Tänzer seine ihn bestürmenden Gedanken akribisch genau in Worten festhält. Das war Anno 1919, Nijinsky war noch keine 29 Jahre alt. Diagnose: geisteskrank! Im Nachhinein: Schizophrenie.

Detlev Glanert setzte Nijinskys Tagebuchaufzeichnungen in Töne und liefert damit das schonungslose Protokoll der Auflösung eines mit Geist und Intellekt ausgestatteten Wesens. Ein im Grunde wichtiges Anliegen, denn Schizophrenie ist ein Thema, das in der aktuellen gesellschaftlichen Diskussion weitgehend totgeschwiegen wird, obgleich es in unserer Lebenswelt virulent ist.

Doch taugt dieses Thema als Opernstoff? Klare Antwort: Nein. Zumindest nicht Waslaw Nijinskys Tagebuchaufzeichnungen. Sicher: die machen den Verfall (s)einer Person konsequent deutlich, lassen die Auflösung des eigenen Ichs hautnah erfahrbar werden. Je länger Glanerts Bühnenwerk dauert, desto krasser... Aber sehr schnell stellt sich ein Ermüdungseffekt ein: Glanert vertont hier nicht (wie bislang) literarische Werke, interpretiert keine irgendwie ausgestaltete Handlung irgendwelcher Personen. Er konfrontiert sein Publikum diesmal mit einer Zustandsbeschreibung, mit chronologisch angeordneten Sentenzen einer einzigen Person, die im Durchschnitt nicht mehr als fünf Wörter pro Satz beinhalten. Das ist harte Kost und bedeutet für das Publikum eine echte Herausforderung an die Konzentrationsfähigkeit. Da Glanert eben kein vorwärts weisendes Moment theatralisieren kann, sondern seine Kernaussage des Verfalls eines Menschen nur variiert, trägt das Opernkonzept (Regie: Ludger Engels) leider nicht über die volle Dauer von einhundert Minuten. Auch nicht die Musik, die sich – zumindest gefühlt – oft wiederholt und ihre Spannung schnell verliert, wobei Dirigent Daniel Jakobi zusammen mit den Mitgliedern des Sinfonieorchesters Aachen eine bewundernswerte Präzision an den Tag legt.

Seitens der dramaturgischen Anlage ist „Nijinsky“ spannend gemacht. Sechs Akteure tummeln sich auf der spartanisch eingerichteten Bühne (Ric Schachtebeck), alle sind Nijinsky: eine Sängerin, ein Sänger, eine Schauspielerin, ein Schauspieler, eine Tänzerin, ein Tänzer. Und alle machen alles: singen, tanzen, schauspielern. Und alle machen es gut, ja fabelhaft! Das Changieren der Person des Tänzers, sein sprunghaftes Ich kommt, aufgespalten auf die unterschiedlichen Akteure, nahe ans Publikum heran. Danach mag man Äußerungen wie „Ich bin allezeit dein, ich bin allezeit in dir“ nicht mehr hören. Auch nicht die ausgiebigen Schilderungen von Onanie und – gegen Ende des Werks – das Verrichten der Notdurft. Das alles ist ja nicht unspannend, aber in der ewigen Wiederholung desselben doch ziemlich nervtötend. Nijinsky endet im absoluten Wahn: Schon anfangs hat er dauernd sich selbst als gottähnlich bezeichnet.

Die Aachener Uraufführung – und dies muss uneingeschränkt gesagt werden - glänzt angesichts der überaus virtuosen Darstellerinnen und Darsteller. Allein das Erlernen des Librettos – wenn man das überhaupt als solches bezeichnen kann – muss die Grenzen des Möglichen berührt haben. Nijinsky mal sechs: das sind die tanzenden Unita Gay Galiluyo und Felix Bürkle, Anne Wuchold und Matthias Bernhold als Schauspieler; Eva Bernard und Martin Berner steuern ihre Opernstimme bei. Immer wieder formen sich Ensembles: Duette, Terzette, Quartette, zuletzt ein großes, im Fortissimo kulminierendes Sextett. Zwischendrin ein ergreifendes Solo, das Martin Berner mit edlem und ebenmäßigem Bariton ausgestaltet.

Gleichwohl: tolle Ansätze und tolle Vorsätze. Der Weg ist der richtige. Und der Mut der Theatermacher in Aachen ist uneingeschränkt zu loben.

Das Premierenpublikum reagierte unterschiedlich: bei einem Teil nervöses Rutschen auf den Sitzen schon nach zwanzig Minuten. Dieselben Menschen – nicht wenige - verließen nach dem letzten Akkord fluchtartig das Theater. Auf der anderen Seite die begeisterten und „Bravo“ rufenden Connaisseurs. Oder waren es „nur“ die Freunde und Bekannten der Akteure vor, auf und hinter der Bühne?

Ob „Nijinskys Tagebuch“, wie so viele andere Glanert-Opern, Eingang ins Repertoire findet, wird sich zeigen.

Christoph Schulte im Walde

 










Fotos: Wil van Iersel