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Fakten zur Aufführung 

JENUFA
(Leoš Janáček)
6. April 2015
(Premiere am 22. März 2015)

Theater Aachen


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Im Labyrinth gequälter Seelen

Einen Superlativ darf sich das Aachener Theater an die Fahne heften: Eine derart unerbittlich harte Darstellung der Jenufa wie zurzeit in der Kaiserstadt gab es lange nicht zu sehen und hören. Auch nicht in den letzten Produktionen in Brüssel und Essen. Und das auch noch auf hohem musikalischem und szenischem Niveau. Regisseur Michael Helle rehabilitiert sich damit nach seiner Bruchlandung mit Verdis Don Carlo aus dem letzten Jahr, und das Aachener Theater entschädigt für einen belanglosen Freischütz aus der letzten Zeit. Die packende Geschichte um Jenufa präsentiert sich in Aachen als ein Kaleidoskop von Schuldgefühlen und äußeren Zwängen zerrissener Figuren. Niemand handelt frei, niemand bleibt ohne Schuld. Wenn Laca und Jenufa am Ende das Dorf verlassen, lässt die sich öffnende Mauer im Hintergrund nur einen Spalt offen. Gerade breit genug, um sich durchzuzwängen. Und ein Licht am Horizont der ungewissen Zukunft ist auch nicht zu sehen. Dazu lässt Generalmusikdirektor Kazem Abdullah das Orchester grell, scharf und alles andere als versöhnlich tönen. Schade, dass Abdullah diese Extreme nicht besser dosiert. Was im Finale angebracht ist, erweist sich im Verlauf des Abends vielfach als zu laut und rau. Die warmen, „menschelnden“ Passagen, die ab und zu aufleuchten, werden zu oft überspielt.

Damit erschöpfen sich allerdings auch schon die Einwände gegen die Produktion. Piero Vinciguerra verzichtet in seinen pointiert-schlichten Bühnenbildern zwar auf Farben und begnügt sich, wie auch die Kostümbildnerin Renate Schwietert, fast ausschließlich mit vielfach schattierten Grautönen. Einfache Schwarz-Weiß-Malerei wird aber vermieden. Auch in der Gestaltung der Figuren. Helden gibt es ohnehin nicht in dem Stück. Jeder trägt ein Stück Schuld am Verlauf der Tragödie, und jeder verdient menschliches Mitleid. Mit Ausnahme der ihr Schicksal tapfer ertragenden Jenufa gibt es bei Helle keine sympathischen Figuren. Auch Laca nicht, der zwar am Ende der verlassenen Jenufa Halt gibt, aber zunächst vor Jähzorn kocht und, kein schöner Zug, Jenufa bewusst und in Aachen brutal das Gesicht entstellt. Die Küsterin glaubt zwar mit ihrer schrecklichen Tat, Jenufa helfen zu können. Aber es schwingt auch eine Menge Egoismus mit. Und der verantwortungslose Stewa bleibt feige bis zum Schluss. Auch das Volk zeigt zwei Gesichter. Rot gekleidete Brautjungfern bringen den einzigen farbigen Akzent auf die Bühne. Der Trachtenverein entpuppt sich jedoch schnell als gewalttätige Masse, die Jenufa nach der Entdeckung des Kindermords brutal zusammentritt. Und Jenufa selbst? Auch sie ist an der Misere nicht unschuldig, vertraut dem Luftikus Stew bis zum Ausbruch der bitteren Wahrheit und versündigt sich mit der Schwangerschaft an den Konventionen ihrer Kirche und Gesellschaft. Und dennoch sind alle auch Opfer äußerer, bigotter Einflüsse. Es gibt keine Heiligen und keine Teufel in dem Stück. Das arbeitet Michael Helle vorbildlich aus. Und zwar ohne jede Verbiegung des Textes und ohne jede Sensationslust.

Sieht man davon ab, dass Kazem Abdullah das Orchester weitaus weniger differenziert führt, schlägt sich Helles kluge Charakterisierung der gespaltenen Figuren auch gesanglich nieder. An der Spitze eines rundum überzeugenden Ensembles erneut Linda Ballova, die schon in der letzten Saison als Rusalka begeistern konnte. Mit großer, aber mädchenhaft junger Stimme verkörpert sie eine geradezu anrührende junge Frau, die das Abenteuer sucht, vom Schicksal geschlagen früh ergraut und illusionslos, aber gefasst ihr neues Leben in die Hand nimmt. Eine von jugendlicher Frische und gewachsener Reife getragene Rollenstudie auf höchstem Niveau.

Auch wenn es nicht so recht einleuchten will, dass Irina Popova als Küsterin stärkeren Beifall als ihre Ziehtochter erhält, setzt die Russin starke Akzente. Sie verkörpert eine relativ junge Küsterin noch im Vollbesitz ihrer stimmlichen Kräfte. Ihre harten Höhen wirken sich in dieser Partie weniger gravierend aus als sonst. Ihre Wahnsinnsvisionen spielt sie zwar etwas plakativ drastisch aus. Doch insgesamt trägt Popova wesentlich zum glänzenden Erfolg der Produktion bei.

Den Männern überlässt Janáček undankbarere Partien. Den Laca stemmt Chris Lysack mit heldentenoraler Kraft, mit der er es sogar mit dem oft zu lauten Orchester aufnehmen kann. Johan Weigel erfüllt die nicht ganz so anspruchsvolle Partie des Stewa mit einer überzeugenden Mischung aus Überheblichkeit und feiger Zerknirschung. Ohne Fehl und Tadel bewährt sich das Aachener Ensemble mit den vielen kleineren Partien. Und auch der Chor lässt keinen Wunsch offen.

Begeisterter Beifall für alle Beteiligten. Dass die Stuhlreihen freilich bereits in der dritten Vorstellung große Lücken aufweist, ist angesichts der Qualität des Stücks und der Umsetzung ärgerlich. Es tut dem Aachener Theater sicher gut, dass es sich bei der ebenfalls vorzüglich ausgeführten West Side Story vor Kartenanfragen kaum retten kann und eine Zusatzvorstellung nach der anderen ansetzt. Etwas größeres Interesse hätte die Jenufa schon verdient.

Pedro Obiera

Fotos: Carl Brunn