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Erfahrungen brechen


 
 

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Das Prinzip der Prägung

Wenn es um die Regie im Musiktheater geht, stellt Matthias Kaiser sich gern mal quer. Da muss alles neu gedacht werden. Meist inszeniert der Operndirektor am Theater Ulm. Derzeit bereitet er den Wildschütz für das Theater Trier vor. Und setzt auf die Brechung von Erfahrungen.

Der Wildschütz, eine Oper wie eine rasante Verwechselungskomödie, mit viel Ironie, Witz und koketten Anspielungen. Mit frechen zweideutigen Dialogen, einer gehörigen Portion Satire auf die ach so feine Gesellschaft. Zumindest war sie das, damals in ihrem Uraufführungsjahr 1842.

Heute kommen die Texte etwas gestelzt daher. „Da muss man den Witz schon suchen gehen“, erzählt Regisseur Mathias Kaiser. Dabei verstecken sich so viele Pointen hinter dem altbackenen, staubtrockenen Ton der Sprache des 19. Jahrhunderts. In den gesungenen, wie in den gesprochenen Elementen.

Wie inszeniert man ein solches Stück, das schon musikalisch locker-leicht und vom Inhalt frivol und spritzig, mit einem feinen Schuss Gesellschaftskritik versehen, aufwarten soll? Wie bringt man Erotik in Zeiten von Sexportalen im Internet mittels Gesang und Sprache auf die Bühne, ohne selbst biedermeierlich daher zu kommen?

Kaiser sieht hier drei Mittel, auf die man ganz natürlich zurückgreifen kann. „Eigentlich ist die Oper an sich schon ein absurdes Kunstwerk; man unterhält sich singend, geleitet vom Dirigenten. Das entspricht einfach nicht unserer Realität.“ Man „unterhält“ sich, ohne auf Betonung und Sprechfluss zu achten, geschweige denn auf die Reaktion des anderen, wiederholt sich an Stellen, die zwar aussagekräftig sind, überspitzt diese dabei aber so unglaublich, dass ihre Bedeutungsschwere fast ins Absurde abdriftet. Für ungeübte Ohren und Augen ist die Oper daher im ersten Moment vor allem eines: komisch. „Wenn man diese Absurdität gekonnt nutzt, macht sich die Oper über sich selbst lustig, ohne sich selbst lächerlich zu machen“, bringt es Kaiser auf den Punkt.

Ein zweites Mittel hängt wieder an der musikalischen Ausrichtung, an den Bewegungsabläufen, die von der Musik getragen, aber auch bestimmt werden. Der Moment, in dem die Sänger von der Musik praktisch zu einem entscheidenden Punkt hingetragen werden. Besonders deutlich bei solchen Themen wie dem Dolchstoß, dem Aufeinandertreffen zweier Gegner oder dem Moment des ersten Kusses. „Man merkt deutlich: Die Musik steuert das Verhalten der Sänger, wie ein Regisseur, die Figuren sind nicht Herr ihrer selbst“, sagt der Regisseur und nutzt diese Erkenntnis. Geradezu vorprogrammiert für einen Lacher, wenn in dieser spannungsvollen Situation etwas daneben geht. Der Kuss wird verpatzt, die beiden Gegner laufen im entscheidenden Moment aneinander vorbei, der Dolchstoß geht gehörig daneben.

Beim Wildschütz in Trier kann der Ulmer Operndirektor auf ein weiteres Mittel zurückgreifen: die Sprache. Allerdings erst nach einer Generalüberholung. „Diese alten Dialoge habe ich komplett gestrichen und neu überarbeitet. Der Inhalt ist natürlich derselbe, aber die Wortwahl ist deutlich moderner. Kurz, prägnant und näher an den Figuren.“ Und an ihrem Aussehen, denn Kaiser verlegt die Handlung vom Biedermeier des 19. Jahrhunderts in das „Biedermeier des 20. Jahrhunderts“, nämlich die 1950-er Jahre. „Auch eine Zeit, in der mehr versteckt als gezeigt wurde. Eine spießbürgerliche Gesellschaft, die vorgab nichts zu wissen von dem, was passierte, wenn das Licht gelöscht wurde. Dabei gab es auch hier einzelne revoltierende Geister, wie Hildegard Knef, die auf ihrem Recht zur Selbstbestimmung beharrte, oder Heinz Erhardt, der mit seinem feinen Witz die Gesellschaft aufs Korn nahm, ohne, dass die es merkte. Dieses Aufbrechen der alten Geschlechterrollen mittels feinem Witz ist die Ästhetik, in der wir uns bewegen und in die ich auch die Dialoge geschrieben habe.“

Historische Sprache darf man ändern

Darf man denn so einfach diese Texte in eine moderne Sprache übersetzen? Geht da nicht viel von dem wissenswerten Kanon verloren, nach dem man sich bilden soll? Man darf nicht nur, man muss, sagt Kaiser: „Theater ist doch kein Museum, sondern eine lebendige Kunstgattung. Selbst wenn wir müssten, wir könnten nicht so aufführen wie zu Ursprungszeiten. Wir wissen gar nicht genau, wie damals aufgeführt wurde, und selbst wenn wir es aus Aufzeichnungen haargenau wüssten, eine unbekannte Komponente gibt es immer: nämlich das Publikum.“ In dem Sinne sieht er seine Textarbeiten auch nicht als Übersetzungen, sondern als „sehr weitgehende Interpretation.“ Aber wohin ist sie nun, die vielfach gewünschte Historizität einer Aufführung, das Spielen „in der Zeit“, die historische Genauigkeit? „Die Leute verstehen darunter meist etwas völlig anderes. Sie meinen damit die Ästhetik ihrer ersten Theatererlebnisse und halten das dann für theaterhistorisch authentisch. Das ist die Forderung nach einer Historizität, die es gar nicht gibt, sondern nach einer vermeintlich gesicherten Theaterästhetik, in der man sich diffus wohlfühlen kann. Aber dafür ist das Theater nicht da! Schon um sich wohl zu fühlen, aber nicht um sich diffus wohl zu fühlen“, erklärt der Götz-Friedrich-Schüler. In der Natur gibt es das Prinzip der Prägung, das Jungtieren vordiktiert, das erste, was sie sehen, als „Mutter“ anzuerkennen. Ähnlich funktioniert es nach Kaisers Ansicht auch mit den Sehgewohnheiten im Theater. Dabei kommt es auch viel auf die Spielgewohnheiten der Stadttheater an. „Wenn eine Stadt seit 20 Jahren nur eingeschlafenes Theater spielt, ist der Aufschrei natürlich groß, wenn jemand mal gegen den Strich bürstet. Anders ist das in Städten, in denen das Publikum bei jeder neuen Aufführung neu gefordert wird.“

Das Verständnis der Kritik

In Publikumsgesprächen hat Kaiser oft festgestellt, dass der Anteil der Leute, die lauthals kritisieren und nach einer gesicherten Ästhetik verlangen, genauso groß ist, wie der Anteil der Leute, die still offen für Neues sind. „Mein allererster Intendant vor über 30 Jahren hat einmal zu mir gemeint, ‚Wenn du eine negative Kritik bekommst, musst du das mit 10 multiplizieren, um auf die absolute Zahl zu kommen. Ein Lob musst du mit 100 multiplizieren‘. Das ist im Leben genauso wie im Theater: Die Kritiker äußern sich eher als die Fürsprecher. Und lauter.“

Stefanie Braun, 11.3.2014

 


Matthias Kaiser ist Operndirektor am
Theater Ulm und Musiktheater-
Regisseur mit der Ambition, neue
Traditionen zu prägen.


Theaterbesucher wünschen sich oft,
eine Aufführung historisch authentisch
zu sehen. Regisseur Kaiser verweist
auf die Unmöglichkeit dieses
Wunsches. Hier der Otello in Ulm.


Oper an sich ist zunächst mal komisch,
sagt Matthias Kaiser und begründet
das. Peter Grimes in Trier ist aber auch
beim ihm nicht „komisch“.


Die Kritiker äußern sich eher als die
Fürsprecher. Und lauter. Sagt Kaiser.
Bei seinem Rheingold waren die
Fürsprecher lauter.


Historische Sprache darf auch in die
Gegenwart übersetzt werden. Mit dem
Rosenkavalier hat Kaiser in Ulm für
Begeisterung gesorgt. Im Trierer
Wildschütz wird es neue Dialoge geben.