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Intelligente Alternativen


 
 

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Der 90°-Leo

Seit vielen Jahren bieten die Ruhrfestspiele ein „schräges Festival“ neben dem obligatorischen Programm an. Fringe, so wird das Alternativ-Festival genannt, hat sich inzwischen fest etabliert und kann beachtliche Zuschauerzuläufe aufweisen. Opernnetz hat das diesjährige Festival besucht.

Man kann nicht alle 24 Gruppen und Solisten, nicht alle 132 Aufführungen besuchen - so ist Fringe auch nicht gedacht. Die Ruhrfestspiele nennen Fringe ihr „schräges Festival“, Off-Theater, das sie seit 2005 neben dem Festspielprogramm als eigenes Festival anbieten: Fringe, am Rande, etwas ausgefranst, noch nicht etabliert, nicht immer behaust, nicht immer ernst gemeint, spöttelnd, neben den bekannten Genres. Aber immer unterhaltsam, witzig, oft scharf gewürzt, auch politisch, immer hoch professionell und anspruchsvoll, eine Art fingerfood-Theater. Theaterartiges wird im Solo oder in der Gruppe, mit schräger Musik oder ohne, mal in der Kneipe, mal in einer Sparkasse oder im kleinen Zelt, mit sehr nachdenklicher, bitterböser oder schrill überdrehter Grundstimmung mit viel frischer Luft geboten. Das Festival hat sich in der so genannten Freien Szene inzwischen fest etabliert: Mit verdoppeltem Programm konnte es im vergangenen Jahr auch seine Besucherzahlen beim Publikum jeden Alters verdoppeln.

Bei einem Streifzug durch einige international produzierte Aufführungen überraschen die thematische Breite und das unterschiedliche theatralische Werkzeug, mit dem hier gearbeitet wird. Die belgische Truppe des Agora-Theaters bringt in einer Mischung aus klassischem Variéte, Clownerie und Musical eine spezielle Fassung des widerspenstigen und unbelehrbar gerechten Pferdehändlers Michael Kohlhaas auf die Bühne. Das schwermütige Kleist-Drama gerät unter ihren Händen zu einer Farce, in der dem braven Pferdehändler bei schräger Musik auf Blockflöten und Akkordeon bald der Gerechtigkeitszahn gezogen ist. Das über Land ziehende Wandertheater präsentiert diese Geschichte mit schwarzem Humor, Zitaten des anarchistischen Schriftstellers Mühsam, Knüppel und Blockflöten. „Es ist genug!... Jetzt wird´s zerschlagen!“ Und das Publikum soll mithelfen, mit Papierkugeln die verhassten Vertreter der Tronkenburger Ordnung zu zerschlagen - vergeblich wie fast alles in dieser Schauerballade. Einrad-Artistik, Kasperle-Puppenspiel, eine herrliche Verunglimpfung der papierenen Macht der Ordnungshüter, überzogene, grell geschminkte und schrille Figuren: Die Truppe lässt das Publikum amüsiert und lustvoll mitspielen.

Verlust der Schwerkraft

Leo ist eine sehr spezielle Nummer. Man könnte sie auch den 90°-Leo nennen: Leo scheint alle physikalischen Gesetze außer Kraft zu setzen. Er verwirrt bei seiner unglaublichen Wohnzimmer-Artistik die Wahrnehmung der Zuschauer durch einen einfachen Trick. Wenn er sich rechts auf einer kleinen Bühne mit markant farbigen Wänden geräuschlos über den Boden schiebt und seinen Wunderkoffer in eine Ecke platziert, hängt er links auf einer Leinwand senkrecht an der Wand, der Koffer „klebt“ oben in einer Raumecke… Leos Verrenkungen werden synchron und um 90 Grad verdreht auf eine Leinwand projiziert und dadurch völlig verfremdet. Nach einiger Zeit wird die Verwirrung perfekt: Hüpft Leo – real – auf dem Boden des Zimmers, oder federt er elegant und horizontal schwebend auf der Leinwand immer wieder von der Seitenwand ab. Die Idee, von dem kanadischen Regisseur Daniel Brière entwickelt, wird von dem Akrobaten Julian Schulz in einer Präzision auf die Bühne gebracht, die einem den Atem nimmt. Wenn Schulz an der Wand klebend, auf einem gezeichneten Tisch stehend oder einem imaginären Stuhl sitzend sein an die Wand gekritzeltes Wohnzimmer belebt, ist das Vergnügen komplett. Die verwirrende Illusion geht so weit, dass man manchmal das Gefühl hat, der Darsteller selbst weiß selbst nicht mehr, ob er gerade real oder virtuell einen Salto macht und wo… Als sich dann zum Schluss der Künstler durch den – jetzt real an der Wand hängenden – Koffer seitlich verabschiedet und verschwindet und er gleichzeitig – virtuell – durch den Bühnenboden ins Dunkle hinabsteigt, ist die Verwirrung komplett. Das Publikum tobt vor Begeisterung und fordert eine Zugabe, die Leo, sichtlich erschöpft, auch gerne gewährt – real!

In Sarah Zaharanskis Heute wäre ich mir lieber nicht begegnet, das westfälisch-stilecht im Hinterzimmer der alten Dorfkneipe Drübbelken stattfindet, gibt es nichts zu lachen. Ihre Geschichte aus einer rumänischen Großstadt, in der sie sich als junge Heldin mutig, aber aussichtslos gegen die Tücken des rumänischen Alltags und des Geheimdienstes stemmt, ist grau, hoffnungslos bis zur Atemlosigkeit. Der Rückgriff auf Herta Müllers Roman wird in diesem Eine-Frau-Abend zu einem bedrückend-bewegenden Erlebnis eines Freiheitskampfes im Kleinen. Zaharanski hat zu dem Roman von Herta Müller eine Bühnenfassung geschrieben, die „ihre eigene Biographie sein könnte“. Sie lässt ahnen, was es heißt, in einer Diktatur zu leben, in der Straßenbahn, am Fenster bei der Beobachtung der nicht ganz echten Nachbarn, im Verhörzimmer des Major Albu. Beeindruckend ihre sanft vorgetragenen Reflexionen über ihr merkwürdig gefesseltes Leben, sie sagt das „Unsagbare in filigraner Präzision“ oder singt sehr verhalten einige selbst komponierte Songs zu Gedichttexten von Herta Müller. Sie nimmt deren Formulierungen auf und beschreibt Demütigungen, als „wenn man sich am ganzen Körper barfuß fühlt“. Sie hält ihrem Freund Paul, der häufiger besoffen als nüchtern ist, vor: „Dein Rausch war gestern größer als die Küche hier“. Sie fragt sich und andere, „ob das Hirn für den Verstand und das Glück zuständig“ ist.

Es überrascht, mit welch sparsamen Mitteln Zaharanski die unterschiedlichen Stimmungen dieser überschaubaren Situationen darstellt. Neben ihrer differenzierten Sprache genügen ihr kleine Veränderungen des Gesichtsausdruckes, ein Wechsel der Sitzposition, nur selten der Schritt in eine andere Beleuchtung, um die drohenden, nachdenklichen oder hoffnungslosen Perspektiven ihres noch jungen Lebens darzustellen. Das wird besonders deutlich im knallroten Farbfenster der Verhöre durch den freundlich-zynischen Geheimdienstler Albu. Mit Sahra Zahahranski hat sich zweifellos ein Theatertalent vorgestellt.

Die richtige Auswahl gewinnt

Franz Peschke, Christoph Rech und Meinhard Zanger haben im vergangenen Jahr die jetzt auftretenden 24 Gruppen aus 203 eingegangenen Bewerbungen ausgewählt. Das Publikum hat durch verdoppelten Zulauf diese Auswahl bestätigt.

Nachdem Fringe mit nochmals acht Vorstellungen in der ersten Juni-Woche für dieses Jahr seine Tore geschlossen hat, kann man ohne Einschränkung sagen, dass es den Ruhrfestspielen gelungen ist, neben dem Hauptfestspielprogramm ein zweites, sicheres Standbein aufzubauen, das an Themenbreite, Genrevielfalt und Qualität seinesgleichen sucht. Es hat inzwischen ein immer beständiger werdendes Publikum gefunden, das an innovativen Ideen, ungewohnten Darstellungen und einem bunten Mix von Theaterformen interessiert ist. Es freut sich sehr darauf, neue Theaterideen und junge Talente aus allen Sparten bei Fringe zu treffen. Hiervon könnten und sollten auch kleinere Häuser profitieren, indem sie durch intensive Beobachtung des „schrägen Festivals“ Anregungen mitnehmen oder über Anschlussengagements nachdenken.

Horst Dichanz, 10.6.2013

 


Schwarzer Humor steht bei der
Michael-Kohlhaas-Fassung des
Agora-Theaters aus Belgien im
Vordergrund.


Die Kombination verschiedener
Kunstformen findet sich zu Fringe
zusammen. Bei Michel Kohlhaas ist
es Artistik, Theater, Musik und mehr.


Auch das ist Fringe: Die Aufhebung
der Schwerkraft schafft Illusionen, die
neue Bilder und Gedanken vermitteln
können.


Heute wäre ich mir lieber nicht
begegnet: Sarah Zaharanski schafft
eine Poesie der Angst, einen
Freiheitskampf im Kleinen. Einer der
Höhepunkte des Festivals.