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NEWS 

Geburtstagsadresse


Autorin


Marlies Folkens, 51, verheiratet, zwei Töchter im Teenageralter, lebt in Oldenburg und arbeitet dort im Homeoffice für eine Hamburger Eventagentur als Mädchen für alles, was mit Internetauftritten zu tun hat. In ihrer Freizeit schreibt sie an einem Roman, schreibt gelegentlich Opernkritiken über die Premieren im Oldenburgischen Staatstheater und singt Sopran im Oldenburger Graf-Anton-Günther Kammerchor.

 

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Richard Wagner, das Seelenleben und die Kinomusik

Es gibt viele Arten, mit dem 200. Geburtstag Richard Wagners umzugehen. In diesen Tagen erleben wir mal mehr, mal weniger geglückte Versuche von vielen "bedeutenden" Menschen, in denen dann politisch korrekt auch der Antisemitismus Wagners nicht fehlen darf. Unsere Leserin Marlies Folkens kümmert sich weniger um formale Korrektheiten, dafür umso mehr um das, was Richard Wagner für sie selbst bedeutet. Entstanden ist ein sehr persönliches Dokument, das Frau Folkens uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Wir glauben, dass die Mutter zweier Töchter damit sicher vielen aus der Seele spricht und wünschen Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre.

Lieber Richard,

ich glaube, ich darf dich so nennen, da werden weder mein bester Ehemann, noch deine großnasige Ehefrau eifersüchtig sein. Immerhin weilst du ja schon seit etlichen Jahren nicht mehr unter den Lebenden. Aber wärst du noch unter uns, dann wären heute alle da und würden deinen 200. Geburtstag feiern. Das gäbe eine Torte wie bei Bilbo Baggins' großer Feier, nur noch ein paar Kerzen mehr. Und was bei anderen nach Flächenbrand aussähe, wäre bei dir wohl angemessener ein "Weltenbrand".

Ich muss gestehen, ich bin schon seit meiner Schulzeit ein großer Fan deiner Musik. Andere schwärmten für Police und für Queen - nun ja, das tat ich auch – aber eigentlich gehörte und gehört mein Herz dem Gesang. Es gab sogar mal Zeiten, da wollte ich berufsmäßig Opern singen. Dummerweise hätte meine Stimme höchstens für lyrischen Sopran à la Mozarts Pamina gereicht, nicht aber für die schweren, hochdramatischen Wagner-Rollen, an die ich so sehr mein Herz gehängt hatte.

Johann Sebastian Bach ist was für den Kopf, Musik zum Mitdenken sozusagen. Man steht neben dem Fluss der Musik, schaut den Wellen und Wirbeln zu und versucht, die verschiedenen Strömungen zu erkennen. Mozart ist, um im Bild zu bleiben, wie Bootfahren in ruhigem Gewässer an idyllischen Landschaften vorbei. Beethoven ist ähnlich, nur sind die Landschaften rauer und das Wasser fließt schneller.

Deine Musik, mein lieber Richard, dagegen ist wie Rückenschwimmen zwischen Stromschnellen. Augen zu, rein ins Wasser und sich mit dem Fluss forttragen lassen, heißt das Motto. Sicher nicht jedermanns Sache, aber ich bekenne freimütig: Ich liebe deine Opern! Na ja, bis auf ein paar kleine Einschränkungen vielleicht.

Zu Tannhäuser finde ich irgendwie keinen rechten Zugang. Mag ja noch kommen, aber bislang ist das für mich noch immer eine Art Nummernrevue von lauter Lieblingsstücken. Venusberg, Lied an den Abendstern, Einzug in die Halle, Pilgerchor, Papsterzählung und so weiter.

Lohengrin leidet an den Regieanweisungen, dass jemand in einem von einem Schwan gezogenen Boot herumschippert und dazu auf sein Schwert gelehnt singt. Also wirklich! Der Held - eine Art Superman auf Urlaub - der es aber dann doch nicht schafft, sich mit einem Leben als Clark Kent zu begnügen. Eine Heldin, die es nicht fertigbringt, sich einen Kosenamen für ihren Liebsten auszudenken. Ein schlichtes Schatzi, Liebling oder Bärchen, und sie hätten glücklich und zufrieden leben können, bis an ihr Lebensende. Aber die Bösewichte haben doch durchaus schon mal Potenzial. Wie Ortrud und Telramund sich im zweiten Akt angiften, das hat was.

Parsifal war mir immer ein Rätsel und meinem Herzen nie so nah wie deine anderen Werke, lieber Richard. Da hab ich erst jetzt eine Inszenierung gefunden, die mir die Augen für die Perfektion und Schönheit, für dieses Schweben außerhalb von Zeit und Raum in diesem Werk geöffnet hat. Ich saß im März dieses Jahres im Kino, sah die Übertragung aus der Met und habe geweint, weil das jetzt auf einmal alles einen Sinn ergab.

Deine anderen Opern liebe ich schon seit Ewigkeiten.

Der fliegende Holländer. Eine Art Bela Lugosi zur See sucht verzweifelt nach dem Mädel, dass ihn so sehr liebt, dass sie für ihn stürbe, um ihn von der Unsterblichkeit zu befreien. Ein wahres Bubenstück!

Die Meistersinger von Nürnberg. Ein Konglomerat von Gegensätzen: Alter gegen Jugend, leidenschaftliche Liebe gegen Vernunftehe, Bürgertum gegen Adel, Freiheit in der Kunst gegen Regeln, die der Kunst erst ihre Form geben und – wie der Geist über den Wassern – die beißende Kritik an den Kritikern, die selbst mal versuchen sollten, Kunst zu erschaffen.

Tristan und Isolde. Drei Akte manische Depression und Todessehnsucht, die längste Sterbeszene der Operngeschichte und dazu Musik, zum Sterben schön. Der erste Tenor, der den Tristan gesungen hat, hat auch genau das kurz nach der Premiere getan.

Und natürlich als Höhepunkt: Der Ring des Nibelungen. Erschaffung der Welt bis Weltuntergang in vier Opern an vier Tagen. Das soll dir mal jemand nachmachen!

Was wird uns da nicht alles geboten: Götter und Alben, Riesen und Zwerge, Nixen und Drachen; Helden, die keine sein dürfen, Helden, die zu blöd zum Fürchten sind; betrogene Ehefrauen, Inzest, Verrat, Racheschwüre und Mord.

Und dazu ein Libretto aus lauter Stabreimen: „Garstig glatter, glitschiger Glimmer, wie gleit ich aus!“ Der Text singt sich übrigens leichter, als er sich spricht. Für diese Opern hast du die Leitmotivtechnik zur Perfektion gebracht. Personen, Gefühle, Orte, Gegenstände, alle haben ein eigenes musikalisches Markenzeichen, an dem man sie erkennt.

Beim Versuch, dieses Mammutwerk auf die Bühne zu bringen, verzweifelt jeder Regisseur und fast alle scheitern irgendwo. Denn du, mein lieber Richard, warst deiner Zeit um mindestens hundert Jahre voraus. Das ist kein Stoff für die Bühne, das schreit nach der großen Leinwand.

Ich bin der festen Überzeugung, würdest du heute leben, du wärst in Hollywood, und du würdest Filme machen. Da würdest du die Produktionsfirmen mit deiner Maßlosigkeit ebenso zum Wahnsinn treiben, wie ehedem die Finanzminister des bayrischen Märchenkönigs. Du wärst das Enfant terrible unter den Filmschaffenden, würdest durch zahlreiche Affären glänzen, aber du hättest für deine Filmmusiken sicherlich eine große Vitrine voller Oscars.

Denn immerhin sind die meisten Filmmusiken noch heute nach dem gleichen leitmotivischen Muster gestrickt wie der Ring des Nibelungen.

Wenn der junge Indiana Jones zum ersten Mal seinen Hut aufsetzt, dann ertönt auch zum ersten Mal sein Leitmotiv. Lord Vader hat ebenso sein eigenes Leitmotiv wie Lord Voldemort. Der Komponist John Williams, von dem die oben genannten Scores stammen, arbeitet ebenso damit wie Jerry Goldsmith - Star Trek - oder Hans Zimmer, der im Gladiator Siegfrieds Trauermarsch aus der Götterdämmerung ziemlich offen zitiert.

Und dass Howard Shore, der die Musik zum Herrn der Ringe und zum Hobbit schrieb, die Rückkehr des Königs mit ebensolchen versöhnlichen Violinläufen beendet, wie du die Götterdämmerung, ist bestimmt auch kein Zufall.

Wärst du heute noch am Leben, lieber Richard, ich bin sicher, du hättest Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, damit du in dem Projekt deine Finger hättest haben können. Oder sagen wir mal besser, du hättest versucht, deinen Ring verfilmen zu lassen. Und bei deinem Durchsetzungsvermögen hättest du es sehr wahrscheinlich auch geschafft. Das wäre sicherlich auch toll geworden, denn die Möglichkeiten, die die Tricktechnik heutzutage bietet, wären bestimmt etwas, was dich alten Bühnenzauberer begeistern dürfte.

Lieber Richard, vielen Dank für die Musik, die vielen Stunden des Zuhörens, Schwelgens, Malens von Bühnenbildern und Kostümentwürfen und des Überlegens, wie ich das alles inszenieren würde, wenn ich denn die Möglichkeit dazu hätte. Vielen Dank für die vielen Menschen, die meine Begeisterung teilen und sie mit mir teilen und ohne die mein Leben so viel ärmer wäre.

Marcel Prawy hat so recht, wenn er sagt: "Richard Wagner wurde am 22. Mai 1813 geboren und ist nie gestorben!"

Herzlichst,

deine Marlies Folkens am 22.5.2013