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August 2011


 
 

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Auflösung der Zeit

Die Vorstellung, die Dimension der Zeit aufzuheben, hat Künstler immer schon fasziniert. Dali hat Uhren zerfließen lassen, Wim Wenders hat mit Zeitraffer und slow motion experimentiert. Was aber, wenn die Zeit tatsächlich aufgehoben wird, wir eine gesamte Oper in einem einzigen Bild festhalten können? Ohne Nebenwirkungen geht das nicht.

Als ich zum ersten Mal die Theaterbilder der Künstlerin Karen Stuke bei einem Besuch im Berliner Kronenboden gesehen habe, fühlte ich mich sofort wie ein Chorsänger der griechischen Tragödie. Gleichzeitig Teilnehmer und idealer Beobachter, reagierte ich auf die Ereignisse und die Inszenierung so, wie wahrscheinlich auch das reale Publikum reagiert hat. Sofort und mit Wucht inmitten der Szene“, beschreibt Antonio Maiorino, Mitinhaber der Galleria PrimoPiano in Neapel, seine erste Begegnung mit der Opera obscura.

Die Opera obscura ist ein Zyklus von Fotografien, den die aus Westfalen stammende und heute in Berlin lebende Theaterfotografin Karen Stuke mit einer speziellen Technik aufgenommen hat. Sechs Loch- oder Plattenkameras, die der Camera obscura nachempfunden sind und während der langen Belichtungszeit möglichst bewegungslos auf Stativen ruhen, nehmen bis zu sechs Bilder in verschiedenen Belichtungsstufen aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf. Im Ergebnis bleibt ein Bild, auf dem die gesamte Aufführung einer Oper zu „sehen“ ist. „In Stukes Theateraufnahmen steht häufig das Statische gegen das Flüchtige, eine feste Struktur gegen das Amorphe. Und das Amorph-Flüchtige kann auch aus projizierten Bildern auf dem Bühnenhintergrund bestehen, die sich in der langen Belichtung mitunter zu einer ebenso unentwirrbaren Schichtung zusammensetzen wie die Menschen davor“, beschreibt Matthias Harder, Kurator des Helmut-Newton-Instituts Berlin, die Besonderheit der Werkgruppe und fährt fort: „Der Theatervorhang am rechten und linken Bildrand konkretisiert den Ort und die räumliche Tiefe der Bühne; er wird zum Rahmen des Theaterstücks wie der fotografischen Abbildung. So schauen wir – mit Blick auf Stukes visuelle Interpretation – gleichzeitig auf beides.“

Was der Kunstexperte versachlicht, begeisterte den Galeristen Maiorino so sehr, dass er den Leiter des Internationalen Theaterfestivals Neapel im vergangenen Jahr, Renato Quaglia, auf die Berliner Künstlerin und ihre Arbeiten aufmerksam machen wollte. „Von dieser glücklichen Besessenheit Stukes für das Theater und ihrem Willen, in einem einzigen Bild den Geist einer vollständigen Inszenierung einzufangen, bis zur Idee eines Residenzprojekts im Rahmen des Festivals war es nur ein kleiner Schritt“, erinnert Maiorino sich. Mit seinen Plänen rannte er offene Türen ein. Längst hatte Quaglia, sagt er, die Stuke entdeckt und die Einladung geplant.

Stuke erhält den Auftrag, acht Opern in Neapel zu fotografieren. Die historische Bühne des Teatro di San Carlo steht ihr ebenso zur Verfügung wie die der Teatri Mercadante, Nuovo oder Sannazaro. „Was sollte ich in Neapel alte Aufnahmen zeigen, wenn doch hier die Kunst der Oper zu Hause ist?“ fragte Stuke sich, die Offiziellen und erntete Applaus. So sind weitere acht Aufnahmen im Süden Italiens entstanden. Aufnahmen, die die Zeit außer Kraft setzen. Eine einzige Aufführung in einem Bild festzuhalten, bedeutet, eine Dimension zu verlieren. Und man verliert nicht einfach eine Dimension ohne Nebenwirkungen. Wer gegen die Zeit angeht, verliert. In diesem Fall keine einzige Bewegung auf der Bühne, aber die Deutlichkeit. Schlierenhaft präsentieren sich die Aufnahmen der Vollständigkeit. Das Detail geht verloren, wenn nicht genug Zeit bleibt. Aber was ist eigentlich wichtiger: das Detail oder das Große und Ganze? Stukes Fotografien geben darauf individuelle Antworten, die jeder Betrachter für sich allein zu finden hat.

Was ihr persönlich als Erinnerung an dieses Projekt bleibt? „Ich habe ganz klar die italienischen Strukturen unterschätzt, so viel ist klar. Und die Emotionalität – dabei sollte man doch wissen, warum nur Verdi und Puccini solche Oper komponieren konnten“, sagt die Künstlerin, weil sie für einen Moment vergessen hat, dass die Italiener die Dimension Zeit längst außer Kraft gesetzt haben.

Michael S. Zerban, 11. August 2011







Fotos: Karen Stuke