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Alternative: Russland


 
 

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Sibirische Kälte gibt's nicht

In den ersten beiden Aprilwochen dieses Jahres fand zum ersten Mal das Transsibirische Kulturfestival in Novosibirsk statt. Bunte Vielfalt auf dem Programmzettel, steht vor allem eines im Vordergrund: Eine auffallend hohe Qualität.

Novosibirsk ist nach Moskau und St. Petersburg die drittgrößte Stadt in Russland. Sie liegt weit ab vom Schuss, im östlichen Sibirien, über vier Stunden Flugzeit entfernt von der Hauptstadt. Oder knapp 48 Stunden Zugfahrt, wenn man mit der berühmten transsibirischen Eisenbahn reist, die hier nach einem Drittel der Strecke einen Zwischenhalt einlegt. Schön ist die Metropole, die erst vor gut 120 Jahre gegründet wurde, auf den ersten Blick nicht. Das Stadtbild ist wenig einladend. Eindrucksvolle Bauwerke, wie der attraktiv gestaltete Bahnhof, die Alexander-Newski-Kathedrale oder das Opernhaus mit einem kolossalen Lenin-Denkmal davor sind rar, die Umgebung ist industriereich, die Landschaft waldig bis karg. Warum also sollte man Novosibirsk besuchen?

Zunächst wegen der hochkarätigen kulturellen Angebote. Neben diversen Museen gibt es ein riesiges Opernhaus: Das Staatlich-Akademische Theater für Oper und Ballett mit knapp 1800 Sitzplätzen ist den Ausmaßen nach das größte in Russland und besitzt einen imposanten Zuschauerraum in Form eines Amphitheaters. Es gibt ein Operetten- und ein Puppentheater, verschiedene Sprechbühnen und die nach dem ehemaligen Chefdirigenten der Philharmoniker Novosibirsk benannte, jüngst eröffnete Arnold-Kats-Konzerthalle, die auch das international angesehene Orchester beherbergt. Es gibt eine hoch anerkannte Ballett- und eine Schauspielschule, das bedeutende Musikkonservatorium und jenes für darstellende und bildnerische Volkskunst, das größte im Land – im Rahmen des Festivals präsentierte es eine wunderbar stimmungsvolle Folklore-Vorstellung. Denn hier spürt man unverfälschten Stolz und Freude der Studenten und Lehrer, ihr Können zu zeigen. Es sind gerade solche Begegnungen, wozu auch jene mit den Menschen auf der Straße gehören, die ebenfalls das Hiersein bereichern. Man erfährt trotz sprachlicher Barrieren sehr viel Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit. Russisches Leben abseits touristischer Hochburgen kennenzulernen: Auch das ist ein guter Grund, die Stadt und das Umland, wo beispielsweise das sehenswerte Dorf Kolyvan mit alten Holzhäusern und einem Frauenkloster liegt, zu erkunden.

Mit der Heimat im Einklang

Aktuell aber steht das Trans-Siberian-Art-Festival im Vordergrund. Spiritus rector ist Vadim Repin, der aus Novosibirsk stammende internationale Geigenstar. Sympathisch, locker, und durch und durch überzeugt von der Sache formuliert er den Hintergrund seiner Idee, die bei den politisch Verantwortlichen sofort Anklang fand: Sein Engagement für das Festival ist ein Dankeschön an seinen Geburtsort, mit dem er sich nach wie vor verbunden fühlt. Der Region und der Stadt, in der er die Ausbildung begann und in der er die ersten professionellen Sporen verdiente, will er mittels Kultur zu mehr Attraktivität und Ausstrahlung verhelfen. Dabei ist ihm auch die Förderung des Nachwuchses ein Anliegen. So wie er selbst früher unterstützt wurde, will er heute begabten Kindern eine Chance geben. Deshalb sind viele Proben öffentlich, und als Highlight spielt Repin in einem Konzert gemeinsam mit jungen Talenten Tschaikowskys Streichsextett Souvenir de Florence: ein generationsübergreifendes künstlerisches Miteinander.

Nur etwa sechs Monate dauerten die Vorbereitungen, eine unglaublich kurze Zeit im Klassik-Geschäft, wenn man bedenkt, wie langfristig erfolgreiche Künstler ihre Termine planen. Doch viele der Angesprochenen sagten zu, worauf sie sich als Bonbon ein ihnen besonders am Herzen liegendes Vortragsstück wünschen konnten. Und so gaben sich eine stattliche Anzahl bedeutender Musiker die Ehre. Kent Nagano, Dirigent des Eröffnungskonzerts, der italienische Cellist Mario Brunello, die russischen Pianisten Nikolai Lugansky und Andrei Korobeinikov sowie das English Chamber Orchester sorgen in der ersten Woche für internationalen und nationalen Glanz. Repin selber ist omnipräsent, wirkt in nahezu allen elf Veranstaltungen mit. Als Klangkörper steht das Philharmonische Orchester Novosibirsk zur Verfügung. Zentrale Aufführungsstätte ist die Arnold-Kats-Konzerthalle; außerdem finden Gastspiele in den Nachbarstädten Berdsk, Iskitim und im als Wissenschafts- und Studentenzentrum bekannten Akademgorodok statt.

Beeindruckende Vielfalt

In der zweiten Festivalhälfte steht große Vokalkunst im Mittelpunkt des ersten Konzertes Blissful Enchantment. Umrahmt von Modest Mussorgskys Eine Nacht auf dem kahlen Berge und Tschaikowskys vierter Symphonie, beide heißblütig und mit großem Gefühl dirigiert von Alexander Sladkovsky, singt Olga Borodina Mussorgskys Zyklus Lieder und Tänze des Todes. Mit ihrem imponierenden Mezzosopran, den sie bruchlos von der tief orgelnden Bruststimme in obere Regionen führt, macht sie aus jedem der vier Gesänge erschütternde Minidramen. Wie sie den in vier Gestalten auftretenden Tod mit jeweils entsprechenden Ausdrucksschattierungen ausstattet, ihm mal zartest gesponnene Pianolinien oder düstere Stimmgewalt verleiht, ist von ergreifender Wirkung.

Zwei Tage später bringt ein Kontrastprogramm das Publikum zum Toben: Fiddlemania bietet gehobene Unterhaltung vom Feinsten. Die musikalisch bunt gemischte Show, die durch die Welt virtuoser Salonstücke führt, präsentiert vier Geigenstars unterschiedlicher stilistischer Prägung und zwei Volksmusiker, jeder in seinem Genre ein Könner. Allen voran Alexey Igudesman, der Ersinner und Arrangeur des Ganzen und seit Jahren weltweit mit seinen Crossover-Projekten unterwegs. Er ist nicht nur ein wunderbarer Instrumentalist und Dirigent, sondern auch ein begnadeter Entertainer, der vor Energie nur so sprüht und mit seinen Mitstreitern – dem vorwiegend in zeitgenössischer Musik verankerten Belgier Michael Guttman, dem Jazzgeiger Didier Lockwood und Repin, dazu die Allroundkünstlerin Rusanda Panfili – in einen augenzwinkernden Wettstreit um die brillanteste Darbietung tritt. Zu dem sich das meisterhafte Duo Andrei Romanov und Andrei Kugaevsky gesellt: Ersterer spielt den Bajan, eine osteuropäische Form des Knopfakkordeons, der zweite das russische Zupfinstrument Domra. Das durch Musikstudenten verstärkte Philharmonische Orchester zeichnet sich diesmal durch besondere Vielseitigkeit aus, macht es doch bei Igudesmans Scherzen aktiv und teilweise maskiert mit.

Leichten Fußes und Fingers präsentiert der unter dem Motto Pas de deux for Toes and Fingers stehende Abend, der quasi als Familienveranstaltung des Ehepaars Vadim Repin und Svetlana Zakharova, eine der besten Ballerinen der Gegenwart, angelegt ist. Er demonstriert – unterstützt von drei Tänzerkollegen und dem Novosibirsker Kammerorchester – bei einer Reihe von tänzerischen und geigerischen Showpiecen nicht nur persönliche, sondern auch künstlerische Verbundenheit, wie es der Titel so nett beschreibt: Pas de deux für Zehen und Finger. Das ist teils anrührend anzusehen, wenn die Zakharova hingebungsvoll Saint-Saens’ Sterbenden Schwan tanzt und Repin dazu die Solobegleitung übernimmt. Teils aber auch witzig, wenn die Ballerina im rasanten Finale, einem quirligen Pas de Trois nach Antonio Bazzinis virtuosem Violinstück Tanz der Kobolde, von ihren Tanzpartnern Vyacheslav Lopatin und Dmitry Zagrebin umworben wird und sich letztendlich für den Stehgeiger entscheidet.

Mit allem drum und dran

Parallel zu Repins Festival finden die Sibirischen Ballettfestspiele statt, bei denen erstmals der Lyubov-Gershunova-Preis vergeben wird, der an die in Novosibirsk äußerst beliebte Ballerina erinnert. Zakharova überreicht ihn im Anschluss an eine choreografisch solide Nussknacker-Vorstellung, die wegen der verschwenderischen und hiesig teuersten Ausstattung von Ezio Frigerio und Franca Squarciapino in die Annalen des Opernhauses eingehen wird. Ausgezeichnet wird Vera Sabantseva. Die junge Tänzerin, die kürzlich auch in Wien engagiert war, zeigt als Zuckerfee makellose Technik. Für westliche Besucher allerdings ist die Begegnung mit ihrem Partner noch spannender. Denn an ihrer Seite ist der erst 24-jährige Superstar Sergei Polunin zu sehen, jener begnadete ehemalige Erste Tänzer des Royal Ballet London, der 2012 in der Ballettwelt für Aufregung sorgte, als er dort unter unrühmlichen Umständen Aufführungen platzen ließ. Seither tanzt er wieder in seiner Heimat, in Moskau und in Novosibirsk, und lässt mit seinen schwerelosen Sprüngen und Drehungen als Nussknacker-Prinz die Herzen der Ballettomanen höher schlagen.

Kultur verbindet

Sämtliche Aufführungen sind trotz hoher Preise nahezu ausverkauft. Das letzte Konzert unter der Leitung von Valery Gergiev steht unter dem Motto See you again. Dem kann man sich nur anschließen. Denn am Ende der ungemein inspirierenden Woche bleibt das Gefühl, Novosibirsk wieder besuchen zu müssen, um mehr von Land und Leuten zu erfahren. Gelegenheit dazu ist das nächste Festival, das im kommenden Jahr in der letzten Märzwoche starten wird.

Die Politik und der russisch-ukrainische Konflikt übrigens spielen in den Gesprächen während des Festivals überhaupt keine Rolle. Warum auch? Im Novosibirsker Philharmonischen Orchester sitzen Musiker beider Länder friedlich nebeneinander. Es ist wieder einmal die Kultur, die Brücken schlägt und verbindet.

Karin Coper, 21.4.2014

 


Vadim Repin möchte seiner Heimat
ein neues Gesicht geben. Er engagiert
sich für seine Heimat Novosibirsk.


Olga Borodina zeigt den Tod in vielen
Facetten. Die Bandbreite ihrer Stimme
begeistert das Publikum.


Fiddlemania ist mehr als eine
Ansammlung von Geigern. Repin
macht daraus einen Wettbewerb, bei
dem viele Disziplinen antreten.


Beim Pas de deux gibt es mehr als
eine Überraschung. Ein Ehepaar findet
hier zu einer Einheit auf großartigem
Niveau.


Der Nussknacker zählt zu den
traditionellen Aufführungen, denen es
immer wieder Neues abzugewinnen
gilt.

Fotos: Alexander Ivanov