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April 2011


 
 

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Musiktheater als Reflektion über die conditio humana

Gerard Mortier präsentiert die Saison 2011/2012 am Teatro Real in Madrid

„Das 'Mortier Gen' erreicht den Teatro Real“ titelte Spaniens führende Tageszeitung „El País“ schon eine Woche vor der Pressekonferenz zur Vorstellung der Spielzeit für die Saison 2011/2012. Dieses 'Mortier Gen' garantiere eine kohärente dramaturgische Linie und ausgeprägtes Stilbewusstsein, zeige Risikobereitschaft, Neugier, intellektuelle Aufsässigkeit verbunden mit einer Dosis Polemik. Die Spielzeit 2011/2012 ist die erste, die Mortier vollständig eigenverantwortlich gestalten kann und in der Tat findet man seine engagierte und auch anspruchsvolle Handschrift. Bereits bei seinem Antritt in Madrid hatte Mortier deutlich gemacht, dass das Repertoire des 20. Jahrhunderts eine zentrale Stellung in seiner Programmdramaturgie einnehmen wird, und dies geschieht jetzt mit aller Deutlichkeit. Drei markante Übernahmen eröffnen unter dem Label 'Klassiker des 20. Jahrhunderts' die Spielzeit: Elektra in einer Inszenierung von Klaus Michael Grüber in einem Bühnenbild des Malers Anselm Kiefer aus dem Theater San Carlo in Neapel, Pélleas et Mélisande in einer Inszenierung von Robert Wilson als Koproduktion mit dem Barceloneser Liceu, wo sie am Ende der Spielzeit zu sehen sein wird (Ópera National de Paris, Salzburger Festspiele), und die Lady Macbeth von Mzensk, inszeniert von Martin Kusej, eine Produktion der Nederlandse Opera in Amsterdam, die seinerzeit eine exzellente Aufnahme fand.

Mit der Reihe 'Neue Horizonte' betritt die Gegenwart die Bühne: The Life and Death of Marina Abramovic ist ein Auftragswerk an die Erfinderin der Performance-Kunst Marina Abramovic. Regisseur Robert Wilson, der Schauspieler und Autor Willem Dafoe und die Pop-Sängerin Antony entwickeln gemeinsam mit der Künstlerin eine Arbeit über deren Leben und Werk. Es wird eine Kreation für Tänzer, Performer, Schauspieler. Der belgische Komponist Philippe Boesmans erhielt den Auftrag für eine Neuorchestrierung der Poppea von Monteverdi (Poppea e Nerone), inszenieren wird Krzysztof Warlikowski, Sylvain Cambreling dirigiert das Klangforum Wien. Osvaldo Golijovs Oper Ainadamar (UA 2003) über die Ermordung Federico García Lorcas in den Anfängen der Franco-Diktatur ist in einer Neueinstudierung in der revidierten Fassung der Produktion der Oper Santa Fe in der Regie von Peter Sellars zu sehen. Ein weiteres Projekt in der neuen Reihe hat als musikalische Grundlage mit Verdi und Wagner zwar das 19. Jahrhundert im Hintergrund, mit dem zeitgenössischen Choreografen Alain Platel wird die Musik unter dem Titel C(h)oers, Coros y corazones jedoch neu arrangiert und in Szene gesetzt, um das Spannungsfeld zwischen Einzelnem und Kollektiv auszuloten. Es tanzt Platel's Truppe „Les Ballets C de la B“ und es spielen Chor und Orchesters des Teatro Real unter der Leitung von Marc Piolet.

Die Reihe 'Große Klassiker, Andere Perspektiven' als drittem Schwerpunkt umfasst als Operndoppel Tschaikowskis Iolante und Stravinskis Perséphone als Neuproduktion in der Regie von Peter Sellars. Aus Brüsseler, Salzburger und Pariser Zeiten wird aus dem Mozart-Zyklus von Ursel und Karl Ernst Herrmann La clemenza di Tito wieder aufgenommen. Eine weitere Neuproduktion ist Mercadantes I due figaro (Inzenierung: Emilio Sagi), Alfanos Cyrano de Bergerac in der Inszenierung von Petrika Ionesco stammt hingegen aus dem Théâtre du Châtelet de París.

Ergänzt werden diese Schwerpunkte mit der Reihe 'Oper konzertant' (Mozarts La finta giardiniera, eine Erstaufführung am Teatro Real, Massenets Don Quijote, Wagners Rienzi) , einer kleinen Ballettreihe, der Konzertreihe 'Las noches del Real' mit Stars wie Arabella Steinbacher, Philippe Jaroussky oder Valery Gergiev oder die 'Mañanas familiares' mit einem familienfreundlichen, doch keinesfalls flachen Programm. Hinzu kommen die bewährten Kammermusiksonntage 'Domingos de Cámara', bestritten von Mitgliedern des Titularorchesters. Mit einem breiten pädagogischen Programm und einer jugendfreundlichen Preispolitik will Mortier und sein Team das Opernhaus neuen Publikumsgruppen öffnen.

Mortier setzt wie in Paris nicht auf einen Chefdirigenten, sondern engagiert regelmäßig zweckbestimmt die musikalische Leitung. Es sind einerseits lange Mortier-Vertraute aus Brüsseler, Salzburger, Triennale oder Pariser Zeiten wie Sylvain Cambreling, Semyon Bychkov, Hartmut Haenchen oder René Jacobs, aber auch neue Entdeckungen wie Alejo Pérez oder Teodor Currentzis. Mit im Boot ist auch der ehemalige GMD des Teatro Real Rafael Frühbeck de Burgos. Eine Überraschung war das Engagement von Riccardo Muti für die Mercadante-Produktion zusammen mit dem Orchestra Giovanile Luigi Cherubini.

Nach der Veröffentlichung des Saisonprogramms brach in Teilen der konservativen Presse, etwa in der Tageszeitung „ABC“, und im Web eine heftige Debatte über die Progammierung und die Besetzungslisten aus, in der mit harten Bandagen und nicht ganz realitätshaltig gekämpft wird. Zu gering sei der Anteil spanischer Künstler und Komponisten am Teatro Real unter der aktuellen Leitung. Auf facebook gibt es eine Initiative gegen die Direktion von Mortier („Por la supervivencia de la Ópera: Mortier dimisión“), und eine Petition im Web fordert gar dessen Absetzung. Es ist eine Initiative mit dem bombastischen Titel "Zur Verteidigung der spanischen Opernsänger", aber bislang mit geringer Resonanz und ohne namhafte Beteiligung. Bis zum 31. März haben die Petition gerade 150 Personen gezeichnet. Die Kritik ist nicht ganz zutreffend, treten unter anderem etwa mit Nuria Rial und Plácido Domingo durchaus spanische Sänger auf. Darüber hinaus erhielten 'nationale' Komponisten wie Elena Mendoza, Israel Galván und Mauricio Sotelo Kompositionsaufträge und es gibt Sondierungsgespräche mit weiteren. Mortier hatte, so wird kolportiert, pauschal behauptet, einigen spanischen Interpreten fehle das stilistische Distinktionsvermögen und sie würden Verdi wie Puccini singen und hätten wenig Sinn für Mozart. Sicherlich fasst die Kritik auch die Stimmung eines gewissen Teils des Publikums zusammen, der die ganze Ausrichtung nicht passt. Doch wenn man die Programmation Mortiers mit der anderer Madrider Musikkultureinrichtungen vergleicht, etwa dem Auditorio Nacional, so kann man nur feststellen, dass sie sich optimal ergänzt und sich exzellent in das Madrider Kulturleben einpasst.

Eine weitere Novität ist die Präsenz der Salzburger Osterfestspiele in Madrid. Mortier kündigte Gastspiele der Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle mit Parsifal, Salome und Carmen an (2013-2015).

Dirk Ufermann