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NEWS 

Gesangswettbewerb


 

Gewinn für alle


Jury-Vorsitzender Dominique Meyer, Gustav Kuhn sowie die Wettbewerbsteilnehmer Sebastian Wartig und Levente Páll erzählen von ihren Wettbewerbseindrücken (9'14).


 

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Szenen eines Wettbewerbs

Alle zwei Jahre blickt die Klassikwelt nach Gütersloh. Dort wird die Endrunde eines der größten Gesangswettbewerbe der Welt ausgetragen. In diesem Jahr soll ein gerechteres Preisträgersystem für mehr Spannung sorgen. Doch am Ende gibt es eine Überraschung und auch ein paar offene Fragen.

Fast 1500 Nachwuchssängerinnen und -sänger aus 69 Ländern haben sich dieses Jahr gemeldet, um sich am Gesangswettbewerb Neue Stimmen zu beteiligen. Gerade mal 40 junge Künstler wurden in die Endrunde nach Gütersloh eingeladen. 19 von ihnen schaffen es ins Halbfinale, in dem sich neun Finalisten der Jury zu stellen haben. Geplant ist für dieses Jahr dank eines neuen Preisträgersystems nicht nur eine Neue Stimme als Gewinner, sondern zwei erste Plätze – einer für die Frauenstimmen und einer für die Männerstimmen. Vor den Talenten liegt eine Woche höchster Anspannung und Konzentration.

Ruhe beim Vorsingen

Dienstag. In der Stadthalle Gütersloh schwebt der Geruch frischer Farbe. Noch wird emsig an Säulen und Wänden gearbeitet, damit sich das Gebäude zu den großen Konzerten in bester Verfassung präsentieren kann. Ein nicht-öffentliches Vorsingen steht auf dem Programm. Für einige Intendanten und Agenten ist der Auftakt der Finalwoche interessanter als das Finale, weil sie hier die breite Masse an jungen Sängern erleben. Diese 39 Sängerinnen und Sänger, die sich in Gütersloh versammelt haben, wurden in den 22 weltweit durchgeführten Vorauswahlen, immer unter der Aufsicht von Jury-Mitglied Brian Dickie, ausgesucht. Auf der großen Bühne steht ein einsamer Flügel, im Hochparkett des dunklen Saales nimmt die elfköpfige Jury unter dem Vorsitz von Dominique Meyer, Intendant der Staatsoper Wien, Platz.

Einer der jungen Künstler, der an diesem Morgen vor die Jury tritt, ist Levente Páll. Vom ersten Ton seiner Figaro-Szene Tutto e disposto an ist klar, dass der ungarische Bass-Bariton für die Oper und für den Wettbewerb brennt. Fast sogar ein wenig zu viel, wie sein temperamentvoller Auftritt zeigt. Nach der ersten Arie beratschlagt die Jury kurz und wählt eine zweite Arie aus, die den Künstler von einer andern Seite zeigen soll. „Können wir den Gremin haben?“ bittet Meyer. Und schon schaltet Páll vom eifersüchtigen Figaro auf den alten, verliebten Fürsten Gremin um, dem Tchaikovsky diese ruhige Legato-Linie geschrieben hat. Freilich singt er die nicht mit weniger Ausdruck. So geht ein Vormittag konzentriert und ruhig um, an dem man trotz einer deutlichen künstlerischen Spannweite keine schlechte Stimme hört. Am Ende gibt es noch ein kleines Highlight und einen klitzekleinen Skandal. Ein Zuschauer, der sich anscheinend in den Saal mogeln konnte, hält das Ganze wohl für eine Art Konzert und ist – wie alle Anwesenden – von Sopran Kristina Mkhitaryan so hingerissen, dass er spontan applaudiert. Prompt kassiert er von Meyer einen kleinen Rüffel, den er aber nicht versteht. Denn nachdem Mkhitaryan mit der Auftrittsarie von Donizettis Lucia, Regnava nel silenzio, sich gleich als mögliche Finalistin empfohlen hat, klatscht er wieder und man erlebt den ansonsten so ruhig wirkenden Jury-Vorsitzenden einmal von einer anderen Seite.

Noch mehr Emotionen aller Couleur erlebt man am Dienstagnachmittag, wenn die 19 Halbfinalisten bekannt gegeben werden. Darunter – und das überrascht niemanden – auch Páll und Mkhitaryan, und zumindest auch ein deutscher Teilnehmer, der Bariton Sebastian Wartig. Die zweite deutsche Teilnehmerin, Sopran Raffaela Lintl, hat es nicht geschafft.

Das lange Halbfinale

Donnerstag. Eine ganz andere Stadthalle erlebt man an diesem Vormittag. Der Puls der immer noch freundlichen Mitarbeiter ist deutlich höher, die Handwerker arbeiten sichtlich schneller auf das Ende zu, die Musik ist hörbar lauter geworden. Denn die Duisburger Philharmoniker unter der Leitung ihres GMD Giordano Bellincampi haben sich zur öffentlichen Generalprobe eingefunden. Ebenso auch ein kleines Publikum, in dem sich nach den ersten Arien einige lange Gesichter bemerkbar machen. Sie sind in der Hoffnung gekommen, ein kostenloses Konzert zu hören. Dass 11 Uhr vormittags gerade für Frauenstimmen eine unchristliche Zeit ist, dass man in der Regel vor einem am gleichen Abend stattfindenden Konzert nie ganz aussingt, scheint ihnen nicht bekannt zu sein. Während sich die Solisten mit Dirigent und Orchester abstimmen, nehmen die Vorbereitungen für das große Konzert am Abend ihren Lauf. Die Medienpräsenz nimmt spürbar zu.

Am Abend dann scheinen Kameras allgegenwärtig, der Facebook-Auftritt des Wettbewerbs füllt sich mit Backstage-Eindrücken. Doch jetzt zählt nur noch die Musik. 19 sichtlich nervöse Künstler treten mit je einer Arie an – zum einen, um die Jury einmal mehr zu überzeugen, sie mit ins Finale zu nehmen, zum anderen, um das Publikum zu begeistern. Denn der Publikumspreis ist schon im Halbfinale zu gewinnen. Ein langer, aber musikalisch höchst unterhaltsamer Abend nimmt seinen Lauf. Die ersten deutlichen Favoriten zeichnen sich ab. Und wie jedes Mal ist die Überraschung groß, wenn gut drei Stunden später von Dominique Meyer die Teilnehmer des Finales verkündet werden. Einige Namen tauchen nämlich nicht auf: Zum Beispiel Levente Páll, der süffisant die Serenade des Mephisto Vous qui faites l’endormie auf den Punkt bringt. Oder Rihab Chaieb, die frisch und frech als Page Stefano die Capulets verspottet. Auch Sebastian Wartig kommt nicht ins Finale, vielleicht ist sein Heiterkeit und Fröhlichkeit der Jury eine Spur zu ernst. Dafür rücken andere Namen ins Blickfeld. Myong-Hyun Lee wird vom Publikum für den Tenorschlager Che gelida manina gefeiert. Nicole Car verliert ihren Status als Geheimfavoritin spätestens, nachdem sie enthusiastisch mit der Arie der Margarethe O Dieu! Que de bijoux den Arienreigen beendet hat. Nadine Sierra ist für einige Internet-Nutzer schon vorab eine Favoritin auf den Titel und gewinnt prompt und völlig zu Recht den Publikumspreis: Die Arie Caro nome ist nicht nur ein makelloser Höhepunkt des Abends, sondern auch ein würdiges Geburtstagsständchen für den Jubilar des Abends. Giuseppe Verdi wäre an diesem Tag angeblich 200 geworden.

Überraschung im Finale

Samstag. Ein strenger Wind weht am Morgen des Finales durch die Stadthalle. Genaue Einlasskontrollen, abgesperrte Bereiche deuten schon jetzt darauf hin, dass das Finale nochmal einen ganz anderen Charakter bekommt. In der wieder öffentlichen Generalprobe sind wieder ähnliche Zeitgenossen wie am Donnerstag im Publikum. Stimmen, die zwei Oktaven tiefer im Piano probieren, bekommen einfach keinen Applaus. Der Generalmusikdirektor nimmt sich Zeit, um in einigen Arien bei seinem Klangkörper nachzubessern. Die punktgenaue Achtel-Begleitung bei Boito und Händel verlangt von den Duisburger Philharmonikern exakte Feinarbeit. Bellincampis Umsicht und seine gute Laune zahlen sich in den Konzerten aus. Er strahlt Sänger und Musiker an, ist gleichzeitig aber hochkonzentriert, um einen Sänger rechtzeitig aufzufangen, falls eine hohe Fermate nicht gelingt oder das Tempo nicht gehalten wird. Auch als Souffleur eilt er gerne zu Hilfe. Das Orchester leistet mitreißende Begleitarbeit, die die Kandidaten nochmal deutlich anspornt. Manch etwas schwammiger Einsatz oder kleinere Missgriffe im Ton fallen angesichts der erstklassigen Gesamtleistung kaum ins Gewicht. Irritierender sind einzelne Körperhaltungen in der Cello-Abteilung, die man nur als lustlos bezeichnen kann, wo gegenüber bei den Violinen ein vorbildlicher, spielfreudiger Einsatz herrscht. Gut, dass die Sänger auf dieser Seite stehen.

Am Abend dann ist überregionales Schaulaufen angesagt. Der eine oder andere prominente Schauspieler hat sich eingefunden und wird mit anderen VIP-Gästen über einen gesonderten Eingang mit rotem Teppich in die Halle geleitet. Da haben die Veranstalter offenbar in ihrer ansonsten so gut durchdachten Organisation über die Stränge geschlagen. „Borniert“ und „provinziell“ sind noch die freundlicheren Meinungen, die man bei den übrigen Gästen, die einen anderen Eingang nehmen müssen, zu hören bekommt. Im Saal mischen sich alle wieder zu einem höchst klatschfreudigen Publikum, das immer mehr auftaut und später begeistert nicht nur die Preisträger feiert.

Das anspruchsvolle Programm ist weit entfernt von einer bloßen Zurschaustellung von Klassik-Hits, auch wenn die zeitgenössische Oper nicht vertreten ist. Fünf Frauen und vier Männer konkurrieren nun jeweils mit zwei Arien um drei Plätze. 18 Arien später sind die Zuschauer angesichts des Niveaus perplex; die Diskussion, während die Jury die Entscheidungsfindung hinter verschlossener Tür antritt, ist lebhaft. Bei den Damen sind es vor allem drei Soprani, die die Ohren der Zuschauer erobert haben. Und die Namen sind keine Überraschung: Nicole Car, Nadine Sierra und Kristina Mkhitaryan sorgen für magische Momente des Gesangs. Letztere schafft es ausgerechnet mit der langen Händel-Arie Se pietà, die Zeit anzuhalten. Die Amerikanerin Sierra singt zweimal Julia: In Gounods Je veux vivre serviert sie ganz natürlich lebensfrohe Koloraturen. In Bellinis Version schüttet sie ihr Herz aus und rührt zu Tränen. Auch Nicole Car aus Australien setzt mit Senza mamma aus Suor Angelica ein emotionales Ausrufezeichen und übertrifft sich noch selber, wenn sie es schafft, die Arie der Leonora Tacea la notteplacida so einfach erscheinen zu lassen. Allerdings gibt es noch zwei weitere Damen mit überzeugenden Beiträgen: Yulia Mazurova singt beispielweise eine keck-sympathische Rosina. Und wenn Saltanat Akhmetova ganz kokett als Manon mit selbstsicheren Spitzentönen durch Paris flaniert, tappt das Publikum gleich zweimal in die von Massenet komponierten Applaus-Fallen. Bei den Herren gibt es zwei Favoriten: Der auf den ersten Blick etwas steif wirkende Oleg Tibulco aus Moldawien überschüttet als Boitos Mefistofeles die Welt mit bassgewaltigem Chaos und gellenden Pfiffen – das Publikum ist begeistert von dem puren Bösen. Myong-Hyoun Lee begeistert einmal mehr mit Timbre und Schmelz. Sowohl der Werther als auch der Rosenkavalier-Sänger sind bei ihm bestens aufgehoben.

Am Ende belegt der Südkoreaner bei den Männern den ersten Platz, Oleg Tibulco den zweiten und der junge, noch etwas ungeschliffene, aber mit viel Potenzial aufwartende Bariton Oleksandr Kyreiev den dritten Platz. Bei den Frauen gibt es dann den großen Paukenschlag: Kristina Mkhitaryan bekommt den dritten Platz. Einen zweiten kann die Jury nicht vergeben, da sich Nicole Car und Nadine Sierra zu sehr auf Augenhöhe befinden. Folgerichtig und zum ersten Mal in der Geschichte des Wettbewerbs gibt es für beide Damen einen ersten Preis – und die Jury bekommt die volle Zustimmung aus dem Publikum, was in Gütersloh auch schon mal anders gewesen ist. Das neue Preisträgersystem hat seinen ersten großen Erfolg, und Initiatorin Liz Mohn legt für den technisch sehr sicheren Bariton Alexey Bogdanchikov, für Saltanat Akhmetova und auch für Yulia Mazurova noch drei Förderpreise obendrauf. Nadine Sierra kann sich über den doppelten Erfolg aus Publikumspreis und erstem Platz umso mehr freuen, weil diese Kombination seit der Einführung des Publikumspreises noch kein Sänger geschafft hat.

Fortsetzung folgt – aber mit wem?

Noch während die drei ersten Preisträger eine Zugabe geben, tauchen Fragen auf. Kann die Bertelsmann-Stiftung als Veranstalter die jungen Künstler davor bewahren, alsbald im harten Business verheizt zu werden? Diese Stimmen verdienen es, ganz langsam aber sicher an die kommenden Aufgaben herangeführt zu werden – und dieser Weg führt nicht direkt über Hauptrollen an großen Häusern. Einmal mehr hat der aus Deutschland kommende, international agierende Gesangswettbewerb deutlich gemacht, dass es genügend Potenzial an jungen Sängern gibt – doch wo ist der Nachwuchs aus Deutschland? Zwei Stimmen in der Endrunde ist schon eine traurige Besonderheit. Nach Christiane Karg im Jahr 2007 hat es kein deutscher Sänger ins Finale geschafft. Da kann man sich nur oberflächlich mit der Möglichkeit trösten, dass die wirklich guten deutschen Stimmen einfach nicht an Wettbewerben teilnehmen. Vielleicht findet die Bertelsmann-Stiftung auch darauf noch eine Antwort und sucht Wege, Ausbildung und Förderung junger Stimmen in Deutschland auf ein einheitliches Niveau zu heben. Denn dass der Fisch von diesem Kopf her stinkt, ist längst ein offenes Geheimnis. Mit Blick auf die ebenfalls im Semifinale fehlenden Nationen aus Italien, Frankreich und Spanien betont Dominique Meyer: „Der Wind bläst nach wie vor aus dem Osten“. Die Aufgabe für den nächsten Wettbewerb ist also gestellt. Nach dem Überraschungsfinale 2013 wäre ein Finale mit deutscher Beteiligung im Jahr 2015 eine würdige Steigerung.

Christoph Broermann, 15.10.2013

 


39 Sängerinnen und Sänger treffen
sich am ersten Tag der Finalwoche in
Gütersloh.


Kein Schmuck, kein Orchester, kein
Applaus. Beim Vorsingen geht es nur
um den Künstler.


Das Finale wird per Live-Stream in das
benachbarte Stadttheater Gütersloh
übertragen.


Jury-Vorsitzender Dominique Meyer
ist in Plauderlaune und zögert den
Moment der Preisvergabe heraus.


Die strahlenden jungen Preisträger
um Liz Mohn und Dominique Meyer.

Fotos 2 - 4: Opernnetz
Fotos 1 + 5: Thomas Kunsch