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Integration im Theater


 
 

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Weniger Grenzen

Auch in diesem Jahr fand Anfang November wieder das Internationale Theaterfestival No Limits in Berlin statt. Der Versuch, auch auf der Bühne Menschen mit und ohne Handicap zusammenzubringen, funktioniert immer besser. Trotzdem: Fragen bleiben.

Berlin ist eine Festivalstadt mit vielen Leuchttürmen, die über das ganze Jahr verteilt sind. Dabei kann man leicht übersehen, dass es auch abseits der Großevents Entdeckenswertes gibt. Wie etwa das Internationale Theaterfestival No Limits, das seit seiner Erstausgabe 2005 nunmehr zum sechsten Mal stattfindet. Sein Motto lautet seit Beginn: „ No Limits – der Titel ist Programm. Keine Grenzen, keine Beschränkungen, Grenzüberschreitungen, Begegnungen – ästhetisch, thematisch, gesellschaftlich“. Was konkret bedeutet: In diesen elf Tagen stehen integrative Theatergruppen im Mittelpunkt, in deren Produktionen Künstler mit und ohne geistige, seelische oder körperliche Beeinträchtigung gemeinsam auftreten. Fast zwanzig verschiedene Arbeiten aus dem In- und Ausland sind zu sehen. Ihr Spektrum reicht von der bunten Theatershow Im Moulin Rouge aus den Niederlanden über das verstörende Tanzstück Borderlines aus Mozambique bis zu dokumentarischen Spielformen, wie Qualitätskontrolle des arrivierten Rimini-Protokolls, bei der eine querschnittsgelähmte Frau von sich und ihrem Befinden erzählt, oder Prazan Glas aus Serbien, bei dem Geistigbehinderte auf der Bühne interviewt werden. Auch rein Musikalisches kommt nicht zu kurz: die Democratic Disco und die Mad Music Night sorgen an den letzten beiden Abenden für Stimmung und Tanzlaune.

Mehr als ein Festival

Zentrum des Festivals ist die Kulturbrauerei im kultigen Prenzlauer Berg, weitere Vorstellungen finden im Ballhaus Ost, im HAU und dem Theater Thikwa statt. Hier startet No Limits mit einem zweitägigen Symposium. „Wen kümmert’s, wer spricht?“ setzt die Themen Autorenschaft, kollektive Entstehungsprozesse und Machtverhältnisse im Theater in Beziehung zu integrativer künstlerischer Arbeit. Es bietet eine Mischung aus wissenschaftlichen Vorträgen und Praxisberichten mit vertiefenden Workshops sowie eine abschließende Podiumsdiskussion. Allen Teilnehmern geht es darum, das kreative Potenzial von beeinträchtigten Menschen zu entdecken und zu fördern: Katja de Braganća etwa gibt das zwei Mal im Jahr erscheinende Magazin Ohrenkuss heraus, das von Menschen mit Downsyndrom gestaltet wird; Anne-Francoise Rouche, die Leiterin des Ateliers CEC La „S“ im belgischen Vielsam, und Thierry Van Hasselt vom Comic-Verlag Frémok haben ein Projekt ins Leben gerufen, bei dem Geistigbehinderte, unterstützt von einem Assistenten, Graphic Novels kreieren. Von erschwerten Arbeitsbedingungen dagegen erzählt Saŝa Asentić, der Initiator der serbischen Truppe Per.Art. Trotz großer Erfolge steht sein 1999 gegründetes Ensemble vor dem Aus, weil die künftige Finanzierung nicht gesichert ist – auch weil es für sein Wirken im Unterschied zum westlichen Europa keine Lobby gibt.

Die vier besichtigten Aufführungen stehen für vier ganz unterschiedliche Ansätze in der integrativen Bühnenarbeit. Erstes Beispiel: die deutsch-russische Koproduktion Entfernte Nähe, die das Moskauer Theater Krug mit dem Goethe-Institut realisiert. Andrej Afonin und Gerd Hartmann fügen Texte psychisch Kranker zu einem stimmungsvollen Reigen zusammen. In den mal realistischen, mal surrealen, mal getanzten, mal gesprochenen Szenen, die zeitweise durch Improvisationen eines Musikertrios untermalt sind, treffen zwei unterschiedliche Regiestile aufeinander und inspirieren sich gegenseitig. Dass die Akteure paarweise auftreten, kann man durchaus symbolhaft verstehen. Entfernte Nähe ist auch ein Politikum, denn es ist das erste integrative Stück, das regelmäßig in einem staatlichen Theater gezeigt wird – ein mutiges Bekenntnis in einer Gesellschaft, die Andersseiende noch stark ausgrenzt. Einen ganz anderen Weg geht das belgische Theater Stap, das für sein Stück 4:3 mit dem Kollektiv Tibaldus en andere Hoeren zusammenarbeitet. Es zeigt eine handlungslose Performance über Götter und Menschen. Ein Spielleiter führt durch den Abend, gibt Anweisungen, trägt verbindende Texte vor. In wie improvisiert wirkenden Szenen und kleinen Sketchen treten wunderliche Figuren auf: unter anderem Mutter Gott, Tod, Mensch, eine Vogelfigur. Nicht alles ist verständlich, beeindruckt aber durch die Präsenz der Mitwirkenden. Und es gibt einen besonders bewegenden Moment, als sich der Mensch der Göttin nähert, sie umarmt und beide eine unendliche Zärtlichkeit ausstrahlen. 4:3 beschränkt sich auf das Wesentliche: eine nackte Bühne, nur Kostümandeutungen und die Ausdruckskraft der Darsteller. Das Blaumeier Atelier aus Bremen dagegen nimmt sich mit Orpheus und Eurydike einen großen Stoff vor und macht daraus pralles Volkstheater, das mit einem bunten, eigens komponierten Musikmix zusätzlich aufgepeppt wird. Die Inszenierung ist fantasievoll und poetisch, aber auch sehr persönlich, weil sie auf eigenen Erfahrungen der Mimen mit Liebe, Verlust und Tod aufbaut. Während das Blaumeier Atelier als Freizeittreffpunkt für jeden offen ist, der sich in verschiedenen künstlerischen Bereichen kreativ entfalten möchte , arbeitet das Berliner RambaZamba professionell mit fest Angestellten. Beim Festival spielt es aus seinem Repertoire Am liebsten zu dritt, eine freche musikalische Revue über ein Tabuthema: dass Menschen mit Down-Syndrom möglichst keine Kinder bekommen sollen. Dagegen wehrt sich eine Gruppe von Betroffenen und kidnappt gesunde Männer, um mit ihnen Babys zu zeugen. Was auf dem Papier merkwürdig klingt, wird bei Regisseurin Gisela Höhne und ihrer wunderbaren Truppe zu einem witzigen wie klugen Stück über Selbstbestimmung und Selbstbewusstsein, das nicht nur gute Laune beschert, sondern einen auch lange nicht loslässt – mithin ein kleines Theaterwunder.

Integration hat Zukunft

Am Ende einer ungemein inspirierenden Woche mit vielen anrührenden Eindrücken und interessanten Begegnungen bleiben kritische Fragen: Was macht das Besondere von Theater mit Behinderten aus, und warum geht es so zu Herzen? Ist es die so authentisch wirkende Darstellung oder gibt es gar einen Mitleidsbonus? Überhaupt, was ist normal, was nicht? Dazu kommt die Konfrontation mit der eigenen Unsicherheit. Die fängt schon damit an, eine korrekte Bezeichnung für gehandicapte Schauspieler und die künstlerische Arbeit mit geistig Behinderten zu finden, ohne gleich das Modewort Inklusion zu benutzen. Denn sie ist nicht neu. Sowohl das Berliner Theater Thikwa als auch dass RambaZamba existieren seit über 20 Jahren, ähnlich lang gibt es das Schweizer Theater Hora, ein häufiger Gast bei No Limits, und das Blaumeier Atelier konnte sogar schon sein 25jähriges Jubiläum feiern. Doch bisher haben integrative Gruppen eher eine Nischenfunktion entfernt vom Theaterestablishment. Seit kurzem aber verändert sich die öffentliche Wahrnehmung, weil in der Szene viel geschieht: Der bekannte Choreograf Jérôme Bel erarbeitete mit dem Theater Hora das Disabled Theatre, das prompt dieses Jahr eine Einladung zum Berliner Theatertreffen erhielt, bei dem Julia Häusermann, Mitglied des Ensembles, auch noch als beste Nachwuchsschauspielerin ausgezeichnet wurde – von Juror Thomas Thieme, der eine Zusammenarbeit mit dem Hora angekündigt hat. Und gerade eben hat Gisela Höhne, die Leiterin des RambaZamba Theaters, den Caroline-Neuber-Preis 2014 der Stadt Leipzig, der „weibliche Theaterschaffende aus dem deutschsprachigen Raum“ ehrt, verliehen bekommen.

Festivalleiter Andreas Meder kann zufrieden sein. Der Publikumszuspruch ist groß, nahezu alle Vorführungen sind gut besucht oder ausverkauft. Das Ziel, das 2005 im Programm formuliert wurde – „ No Limits will ästhetisch wie gesellschaftlich Akzente setzen, Impulse für eine nicht nur künstlerische Integration geben und dabei, nicht zuletzt, mit einem spannenden, wenngleich ungewöhnlichen Festivalprogramm überzeugen“ – ist auch bei der aktuellen Ausgabe erreicht.

Karin Coper, 23.11.2013

 


Das Stück 4:3 kommt ohne Handlung,
nicht aber ohne Götter und Menschen
aus. Theater Stap und das Kollektiv
Tibaldus en andere hoeren glänzen
mit Zärtlichkeit.


Am liebsten zu dritt: RambaZamba
aus Berlin setzt sich mit dem immer
noch Tabu-Thema Down-Syndrom und
Schwangerschaft auseinander.


Mit Orpheus und Eurydike wählt das
Blaumeier Atelier aus Bremen einen
großen Stoff für eine eigene
Interpretation.


Entfernte Nähe ist eine Koproduktion
zwischen dem Moskauer Theater Krug
und dem Goethe-Institut. Es ist das
erste integrative Stück, das regelmäßig
in einem staatlichen Theater gezeigt
wird.


In De Rooie Molen zeigt die
Rotterdamer Theatergruppe Maatwerk
15, die nach mehr als 25-jährigem
Bestehen in ihrem Fortbestand
gefährdet ist.

Fotos: Michael Bause