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Gewinn aus dem Wandel


 
 

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Die Zuschauer von Morgen

Das Kulturverhalten hat sich in den vergangenen 60 Jahren deutlich verändert. Die klassisch orientierte Musikbildung ist heute einer vielfältigen Auswahl an kulturellen Möglichkeiten gewichen. Es gibt nicht mehr das Publikum für die Oper, sondern verschiedene Publika. Viele kulturelle Einrichtungen bewerten sich noch immer über die Anzahl der Abonnenten der Generation 55 plus, ohne mit neuem Marketing, einer interessanten Preispolitik und inhaltlich ansprechenden Inszenierungen für eine nachhaltige Zukunft zu sorgen. Gegen diese demografischen Tendenzen hat das Konzerttheater in Bern eine Reihe von Maßnahmen zur Kundenbindung ergriffen.

Xavier Zuber ist der Konzert- und Operndirektor des Konzerttheaters der Schweizer Bundeshauptstadt Bern und sagt, die Zuschauerzahlen hätten sich im Vergleich zu früher verändert. Einst zählte das Theater auf die Abonnenten der Generation 55plus, aber heute könne eine Kultureinrichtung dieser Art einzig mit Abonnenten nicht mehr aufrechterhalten werden. Das Kulturangebot sei im Hinblick auf die kleiner werdenden Jahrgänge zu überdimensioniert. In Bern wurden diese Tendenzen zeitig bemerkt. Vor zwei Jahren nutzte das Berner Haus die Chance der Fusion des Musiktheaters mit dem Symphonieorchester, um das Marketing und die Verwaltung rudimentär zu erneuern. Die Devise der Geschäftsleitung war, von Anfang an alles richtig zu machen und am Tag des Neustarts parat zu sein.

Alles, was Kommunikation ist, ist Bühne
 
Das neue Marketing ‒ geleitet von Jens Breder ‒ sucht den Dialog mit den Menschen und Institutionen. Das Theater vermietet sein Foyer an Firmen, was für Xavier Zuber die erste Schnittstelle darstellt, da auf diese Weise Menschen ins Theater blicken, die bis dato noch nie einen Fuß über die Schwelle gesetzt haben. Kurze Auftritte von Musikern, der so genannte Face-to-Face-Kontakt, kann bereits die zweite Schnittstelle sein, und letztlich hat ein Kunde mehr das Theater für sich entdeckt. Zum neuen Marketing gehört die Einbindung zeitgemäßer Informationskanäle wie Facebook und Twitter. Die mit vielen Impressionen aus den laufenden Stücken angereicherte Webseite und ihre moderne Navigation geben die notwendigen Anreize der heutigen Zeit. „Eigentlich ist alles, was Kommunikation ist, auch gleich Bühne, so ein Vorschauheft oder ein Leporello“, sagt Xavier Zuber.

Bezahlbarkeit für Alt und Jung
 
Auch das Ticketmanagement wurde flexibler. Vergleicht man das Berner Konzerttheater mit dem Opernhaus in Zürich anhand reiner Eintrittsgebühren, ergibt sich eine Konsequenz: „Bern ist bezahlbar“. Zuber erklärt, die niedrigsten Preise für die Oper liegen zwischen 24 und 27 Schweizer Franken, für Kinderstücke sogar nur bei 21 Franken. Damit junge Menschen in Ausbildung zu Tiefstpreisen an Restplätze gelangen können, gibt es Studentenermäßigungen und die Joker-Card. Die Oper Ariadne auf Naxos von Richard Strauß wurde von vielen jungen Leuten mit der Joker-Card für nur 15 Franken besucht. „Das bringt jetzt nicht das große Geld, aber dafür verschafft es einen Anreiz, dass diese jungen Leute nach dem Studium sagen: ‚Hier hab ich immer gesessen, das gönne ich mir künftig‘“, sagt Zuber. Bezahlbar muss die Oper auch für Familien sein. Bei Märchen oder Familienkonzerten haben Kinder generell 50 Prozent Ermäßigung. So ist es zumindest ohne größere finanzielle Schwierigkeiten möglich, junge Leute und kinderreiche Familien für den Kulturbetrieb zu gewinnen.

Auf diesem Niveau ist das Berner Haus innerhalb der Schweiz eines der preiswertesten Theater seiner Branche. Allerdings fließen Steuergelder in den Erhalt des Hauptstadttheaters; die Besucher sollen durch hohe Eintrittspreise nicht doppelt besteuert werden. Dass die Bevölkerung hinter ihrem Theater steht, zeigte sich an mehr als 75 Prozent Ja-Stimmen, die über die Finanzierung zur Sanierung der Räumlichkeiten entschieden. Ob es ausreicht, preispolitisch Familien, Jugendliche und Studierende zu begünstigen, um die prognostizierte Nachfragelücke auf Dauer zu schließen, wird die Zukunft weisen.

Mobilisierung künftiger Kunden

Für Zuber ist es besonders wichtig, die Zuschauer von morgen bereits heute zu mobilisieren. Das entscheidende zahlungskräftige Alter liegt heutzutage bei zwischen Ende zwanzig bis Mitte vierzig. „Um dieses Segment fürs Theater zu begeistern, ist bei den Jugendlichen anzusetzen, damit diese mit 25 wissen, was klassische Musik überhaupt ist“, erläutert er. Das Berner Haus zeigt sich bei der Umsetzung dieses Ziels sehr vielfältig. Es arbeitet derzeit mit zwölf Musikschulen von Bern und Umgebung zusammen, mit denen Seite an Seite viele Konzerte organisiert werden. Natürlich steht der Geschmack der Jugendlichen an erster Stelle und verarbeitet Filmmusik oder Literatur wie Der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry.

Auch die ganz Kleinen werden bereits an die klassische Musik herangeführt. Für dieses Alterssegment gibt es so genannte Sitzkissenkonzerte von etwa einer halben Stunde. Musiker erzählen auf melodische Weise eine Geschichte, anschließend haben die Kinder die Möglichkeit, die Instrumente im Gespräch mit den Musikern besser kennenzulernen.


In diesem Zusammenhang bekräftigt Zuber, wie wichtig es sei, seinen Fokus nicht nur auf die städtischen Kinder zu legen, sondern insbesondere die Landbevölkerung in diesen Motivierungsprozess mit einzubinden. Das Berner Konzerttheater sieht sich im Kanton verantwortlich für eine enge Verschmelzung des Kulturauftrags. „Wir fahren regelmäßig mit einer kleinen Delegation des Orchesters mit dem Postauto übers Land und treten morgens mit Evergreens wie beispielsweise dem Musikmärchen Peter und der Wolf von Sergei Prokofjew in der Aula einer Schule auf“, erzählt der Orchesterdirektor. Diesen Einsatz kann ein größeres Theater in der Schweiz mit dem vorhandenen Personal leisten und sollte diesen Aufwand zur Pflege der Landbevölkerung auf sich nehmen.
 
Es zeigt sich, dass die Oper oder die klassische Musik insgesamt eine bestimmte Kennerschaft braucht. In den 1950-er und 1960-er Jahren hatte der Mittelstand eine viel stärkere Verankerung in der klassischen Musik, denn sie gehörte zur bürgerlichen Erziehung und war zumeist mit einer höheren Schulbildung verwoben. Zu Hause war es üblich zu musizieren; die meisten Menschen haben ein Instrument erlernt und wussten, wie viel Disziplin nötig ist, um die Musik aktiv zu pflegen. In der heutigen Zeit braucht es jemanden ‒ den Vater, den Onkel, den Freund, der auf die klassische Musik aufmerksam macht, oder ein Ritual, das zu Hause bei Familienzusammenkünften ‒ beispielsweise zu Weihnachten ‒ wiederkehrt. In vielen Elternhäusern wird anlässlich der Festtage klassische Musik aufgelegt. „Bei meiner Mutter waren es die Cellokonzerte von Franz Joseph Haydn“, sagt Zuber. Das Wiederkehrende ist letztlich der Transfer von Informationen und kann Menschen formen.

Das Märchen als Lockmittel für die ganze Familie
 
„Wir haben in der Schweiz und in Deutschland eine bedeutende Ur-Institution: das Märchen“, sagt Konzert- und Operndirektor Zuber. In vorangegangenen Generationen wurden durch alle Berufsschichten hinweg Märchen vom Großvater auf den Vater und wiederum auf den Sohn überliefert. Diese Tradition greift das Theater in den Familienopern auf; zu den Feiertagen nimmt das Berner Haus Aschenputtel von Gioachino Antonio Rossini, Die Zauberflöte von Wolfgang Amadeus Mozart oder Das schlaue Füchslein von Leoš Janáček zu nachmittäglichen Stunden ins Programm auf. Diese Stücke locken die ganze Familie ins Theater, und am Ende erklärt die Großmutter ihrer Enkelin, welches Tier von welchem Instrument – bezogen auf Das schlaue Füchslein – interpretiert wird. Dieser Transfer funktioniert sehr gut, wenn sich die Verantwortlichen bei der Inszenierung und Umsetzung der Werke auf eine generationenreiche Familie konzentrieren.

Das Kernstück ist die Inszenierung

Das Konzerttheater Bern arbeitet seit der Neukonzeptionierung als Vierspartenhaus intensiv an dem Ziel, alle Alterssegmente für die klassische Musik zu gewinnen. Aber das Bestreben darf sich heutzutage nicht alleine auf dieses Ziel konzentrieren. Was die Zuschauer ins Theater zieht, ist letztendlich der Inhalt, der ihnen präsentiert wird. Passieren bei der Umsetzung der inhaltlichen Botschaft der Stücke Fehler, weigert sich der Zuschauer, nochmals zu kommen. Zuber hatte seine Stelle während der Umbruchphase vor zwei Jahren auf Wunsch des Intendanten Stephan Märki angetreten, der ihm anbot, ein Symphonieorchester und gleichzeitig die Oper zu leiten. Er vernetzte die beiden Sparten miteinander. Seine Funktion gab ihm die Möglichkeit, noch einen Schritt weiterzugehen, nämlich Werke von Joseph Anton Bruckner oder Gustav Mahler als musikalische Zitate zum großen Repertoire der Oper zu stellen. Komponisten gaben ihren musikalischen Werken schließlich Geschichten mit. Nicht nur musikalische Figuren, sondern der entstehende Ausdruck entwickelt bei den Zuschauern Gefühle und Bilder. „Die Veränderung kommt nur vom Inhalt“, sagt Zuber. „Man kann permanent über Strukturen reden, aber das bringt nicht das Feuer. Das Feuer erreichen wir, wenn wir merken, dass es zu glühen beginnt.“ Das Berner Haus setzt herausragende Solisten ein, die Gefühle einer Partie und deren Impulse transportieren können. Diese Klangerlebnisse erreichen den Zuhörer, und er kommt wieder.

Die Bedürfnisse gehen zwischen den Generationen weit auseinander. Auf die Frage, ob er keine Bedenken darin sehe, die ältere Generation könnte Probleme mit den neuzeitlichen Operninszenierungen haben, gibt Xavier Zuber zu verstehen, bei sorgfältig erarbeiteten Werken sei die ästhetische Komponente nicht das Hauptthema. Werde hingegen der Fokus falsch gesetzt und die inhaltliche Substanz vernachlässigt, könne es passieren, dass nach dem Opernbesuch nur noch über die Farben der Bühnenkonstruktion diskutiert werde und die musikalische Leistung zur Randnotiz degradiere. „Wir müssen in der Dramaturgie ja nicht klüger sein als die Komponisten und ihre Werke. Wir müssen höchstens unterstützen, wohin wir die Gefühle haben wollen, damit es nicht zu altmodisch daherkommt.“ Heutzutage fließen in die neue Dramaturgie die Erfahrungen aus dem Kino, der virtuellen Welt und den bildenden Künsten ein, so dass die Energien der Musik in den Körper dringen.
 
Das Berner Konzerttheater setzt auf den Inhalt. So sind politische, finanzielle oder technische Aspekte bei der Frage, wie eine Spielzeit sinnvoll zusammengesetzt wird, nachrangig. Es gelingt sicherlich nicht immer, jeden anzusprechen, aber nach 20 Jahren Erfahrung weiß Zuber, was überlebt: Nicht das alte Heldentum, dem nichts etwas antun kann, sondern ein Held, der einen leidvollen Weg mit vielen Blessuren beschreiten musste. Früher wurde das ausgeblendet, aber gerade heute interessiert in einer gesättigten Gesellschaft wie der Schweiz oder in Westeuropa das Innere dieser Person. Die Widrigkeiten des Lebens und die Gefühle, die dabei transportiert werden können, sind Andockungspunkte fürs Publikum. „Viele Opern stecken noch im analogen Zeitalter fest, aber wir Menschen sind physisch, sind Körper, sind live, sind Sex, sind Schmerz, sind Liebe, sind Göttliches, und das wollen wir präsentieren“, da ist sich der Operndirektor sicher.

Von Land und Leuten geprägte Kultur

Das Berner Konzerttheater zieht mit seiner französischen Programmreihe La Nouvelle Scène auch französischsprachiges Publikum des Kantons Bern an. Diese Einrichtung gibt es seit mehr als 30 Jahren und deckt das Kulturbegehren für die Französisch sprechende Kundschaft ab, die ohne dieses Angebot in die Romandie – beispielsweise bis nach Lausanne oder Genf – fahren müsste. Für die Oper und das Konzert ist dieses Zusatzprogramm zwar unerheblich, da zumeist in Originalsprache mit mehrsprachigen Untertiteln gesungen wird, aber im Bereich des Schauspiels zeigt Bern, wie wichtig ein gutes Miteinander auch im zweisprachigen Kanton ist.

All diesen Bemühungen ist es zu danken, dass das Konzerttheater in Bern im Geschäftsbericht der Saison 2012/2013 über eine Auslastung der Oper von 83 Prozent schreibt. Das erscheint hoch, aber Direktor Zuber will die Oper weiter voranbringen. Die Neukonzeptionierung befinde sich in einem Prozess, und es laufe erst die zweite Spielzeit unter dem neuen Konzept. Verbesserungspotenzial gäbe es weiterhin, und er wolle keinen Stillstand erleben, denn der Druck werde bleiben. Das Gleiche gilt für die Auswahl und den Einsatz der Musiker.

Es ist ein Geflecht von vielen Methoden, gepaart mit inhaltlichem Angebot, für jedermann bezahlbare Eintrittspreise und medialem Auftreten, um neues, junges Publikum zu generieren und ältere Besucher zu halten. Man kann nicht sagen, dass die Oper generell in der Krise steckt. Der demografische Wandel verlangt hingegen ein Aktivwerden der Kulturverantwortlichen, um in der heutigen Zeit überstehen zu können. Trotz der Notwendigkeit gelingt es nicht jedem großen Kulturbetrieb, neue Wege zu beschreiten und gemäß den eigenen Prämissen wie Standort, Zielpublikum und Leistungsfähigkeit ein umsetzbares Konzept zu entwickeln. „Wir haben Glück, denn das ist eine Generationsfrage. Zum einen stammt unser Intendant ursprünglich aus dem Medienbereich, und bei uns kommt es nicht darauf an, ob Sie im Anzug oder in Jeans der Musik lauschen“, sagt Zuber. Selbst in Zürich will das Opernhaus die Kunden trotz der weiterhin hohen Ticketpreise für die Oper binden, indem anstelle Preissenkungen in der Pause bisweilen freie Getränke angeboten werden.

Sandra S. Schregle Frison, 17.9.2015

 


Konzert- und Operndirektor Xavier
Zuber will am Konzerttheater Bern
dem demografischen Wandel gerecht
werden.


Die Zauberflöte wird als Familienoper
auch schon mal am Nachmittag
aufgeführt. So können schon die
Kleinsten Musiktheater erleben.

„Man kann permanent über Strukturen
reden, aber das bringt nicht das Feuer.
Das Feuer erreichen wir, wenn wir
merken, dass es zu glühen beginnt.“


Wenn die Inhalte nicht stimmen,
nutzt alles Marketing nicht, weiß
Xavier Zuber. Und die Inhalte
sprechen idealerweise mehrere
Generationen an.