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Schwerpunkt Asien


 
 

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Klassiker, Avantgarde und Asiatisches

Von Mitte August bis Anfang September fand in Berlin das internationale Festival Tanz im August statt. 27 Jahre alt, ist es längst eine feste Größe im zeitgenössischen Tanz. In diesem Jahr stand Asien als Schwerpunkt auf dem Programm.

Tanz im August: Das sind in der 27. Auflage drei prall gefüllte Wochen mit zeitgenössischem Tanz. Das internationale Berliner Sommerfestival, das zum zweiten Mal unter der künstlerischen Leitung der Finnin Virve Sutinen stattfindet, vermittelt traditionsgemäß einen Querschnitt aktueller Strömungen – heuer vorwiegend repräsentiert von Choreografinnen – und zeigt die große Form wie das intime Solo. Zudem schaut es gern weit über europäische Grenzen hinweg: diesmal nach Asien. Geboten wird 2015 aber auch ein Blick zurück: auf die Werke zweier Choreografinnen, die jede auf ihre Weise dem Tanz neue Perspektiven gegeben haben. Parallel zu den Darbietungen, die unter anderem im Haus der Festspiele, im Hebbel am Ufer (HAU), in den Sophiensälen und im Radialsystem stattfinden, können sich die Zuschauer aktiv an Künstlergesprächen beteiligen, Einblicke in unterschiedliche Stile gewinnen oder auch nur zum gedanklichen Austausch zusammenkommen.

Die Wiederaufführung von Available Light, einem Klassiker der Postmoderne, eröffnet das Festival. Die einzige Gemeinschaftsarbeit dreier Ausnahmekünstler – der Choreografin Lucinda Childs, des Komponisten John Adams und des Architekten Frank Gehry – wurde erstmals 1983 in einem Museum in Los Angeles präsentiert und leitete einen neuen Trend mit ein: weg von der Bühne in theaterferne Räume. Die scheinbar einfache, minimal variierende Bewegungssprache korrespondiert ideal mit dem rhythmisch pulsierenden Minimal Music Sound und der metallischen Zwei-Ebenen-Konstruktion. Die elf Tänzer, die in rote, schwarze und weiße Trikots gekleidet sind, führen ihre Drehungen, Sprünge und Schrittkombinationen formvollendet aus. Der abstrakte Tanz, in Available Light ist er von zeitloser Schönheit.

Retrospektiven und Uraufführungen

Im Gegensatz zu Lucinda Childs wurde die Engländerin Rosemary Butcher, die in ihrer Heimat als Ikone des New Dance gilt, hierzulande bisher kaum wahrgenommen, obwohl auch sie den abstrakten Tanz und Aufführungen außerhalb des herkömmlichen Theaters propagierte. Die Retrospektive, zu der eine sehenswerte Ausstellung in der Akademie der Künste gehört, die Teile des Archivs, darunter etliche Filmausschnitte zeigt, soll das ändern. Doch die an einem Abend gezeigte One-Woman-Videoperformance Secret of the Open Sea und das Fünfpersonenstück The Test Pieces irritieren durch radikalen, strengen Purismus, der dem Betrachter ein hohes Maß an Assoziationsvermögen abverlangt. Zu sehen sind Performer, die mit Seilen agieren – vielleicht sind es Lebenslinien. Tanz findet nur in Andeutungen statt, im Gegensatz zu dem früheren Scan aus den Jahren 1999/2000. Diese im HAU vorgestellte Arbeit konzentriert sich auf vier Tänzer, die auf einer quadratischen Aufführungsfläche energiegeladene Duos ausführen. Kurz vor Ende gehen sie ab und ein Film wird auf den Boden projiziert: Körperteile, Gesichter, aufgenommen während der Probenphase, erscheinen mal überlebensgroß, mal verzerrt – der Verzicht auf realen Tanz ist Ausdruck größter Reduktion.

Sinnlichkeit, Vitalität und höchst originelle Choreografien mit einem Hauch von Exzentrik bekommt man bei dem Doppelprogramm von Marie Chouinard und ihrer Compagnie geboten. In Soft virtuosity, still humid, on the edge wird zunächst jede Form von Fortbewegung ausgelotet. Die Tänzer schlurfen, hinken, stolpern, gehen steif oder ungelenk, und sie eignen sich diese Gangarten in solcher Perfektion an, dass das Zuschauen ein ungemeines Vergnügen bereitet. Später finden sie sich zu einem Gruppenbild zusammen, bei dem die Gesichter vergrößert auf einem Video eingefangen werden, wodurch jede Gefühlsregung preisgegeben wird. Hinsichtlich der kreativen Fantasie steht Henri Michaux: Mouvements dem ersten Teil in nichts nach. Grundlage ist ein Gedicht des belgischen Surrealisten Michaux, das dem Stück den Namen gibt. Chouinard lässt die Illustrationen zu diesem Poem, die auf eine Leinwand projiziert werden, von ihren Tänzern so ähnlich wie möglich nachbilden. Das ist ebenso verblüffend wie faszinierend und deshalb ein Höhepunkt des Festivals.

Asien steht im Fokus

Den asiatischen Schwerpunkt vertreten Künstler aus den Philippinen, Indien, Indonesien, Südkorea und China. Eine Übersicht über die dortige Tanzszene mit zahlreichen Videointerviews gibt Choi Ka Fai aus Singapur mit seiner dokumentarischen Performance SoftMachine. Wie groß die tänzerische Bandbreite sein kann, demonstrieren die beiden größten angereisten Ensembles. Der besondere ästhetische Reiz des chinesischen TAO Dance Theatre liegt in der meditativen Entschleunigung der zwei Halbstundenwerke 6 & 7. Die Tänzer zelebrieren betont langsam und enorm konzentriert gleiche Bewegungen: im ersten Teil in meist diffuser Dunkelheit, wodurch die Tänzer gewissermaßen mit der Bühne verwischen. Im hell erleuchteten zweiten Part stecken sie in weißen Schlauchkleidern, und auch hier besticht die Homogenität der fließenden Bewegungen. Überbordende Lebendigkeit und Buntheit zeichnet dagegen das Tanztheater Bul-ssang aus, das die Choreografin Ahn Aesoon für ihre Korea National Contemporary Dance Company kreierte. Aus traditionellen und klassischen Tanzstilen, kleinen Spielszenen, virtuosen Ensembles und Kampfsportkunst formt sie eine quirlig-wilde Zustandsbeschreibung der heutigen Republik, die ihre Spannung aus dem Nebeneinander von Moderne und Vergangenheit bezieht. Verstärkt durch die poppige Bühnenausstattung von Choi Jeongwa mit vielen kleinen Götterstatuen und zahlreichen, vielfältig eingesetzten Plastiktellern findet sie starke Bilder für eine sich wandelnde Gesellschaft, in deren Alltag auch heute noch die Religion eine wesentliche Rolle spielt.

Am Ende des Festivals gibt es mit The Ghosts eine Uraufführung, die wunderbar zum asiatischen Fokus passt. In der Schaubühne am Leniner Platz erforscht die argentinische Choreografin und Regisseurin Constanza Macras mit ihrer Truppe DorkyPark die Lebensumstände von chinesischen Akrobaten. Mit tänzerischen, theatralischen und zirzensischen Mitteln erzählt das Stück vom Schicksal einer Artistenfamilie und den schwierigen Verhältnisse dieser Künstler im Allgemeinen und darüber hinaus, nicht ganz schlüssig, von einer chinesischen Geistersage. Sie ist Anlass für eine eindringliche Prozession der verschleierten weiblichen Gespenster. Doch am spektakulärsten sind die atemberaubenden Kunststücke, mit denen die fünf mitwirkenden chinesischen Artisten ihr immenses Können demonstrieren. Dabei machen sie einen seltsam melancholischen Eindruck – ob das Ausdruck ihrer Biografien ist?

Tanz im August erfreute sich auch im 27. Jahr eines großen Publikumsinteresses. Nahezu alle der 58 Veranstaltungen waren ausverkauft oder gut besucht. „Der Begriff ‚hau‘ wird von den Maori als verbindende Kraft zwischen Schenkenden und Beschenkten verwendet“, sagt Annemie Vanackere, die Chefin des HAU. In diesem Sinne war der Austausch zwischen Künstlern und Publikum beim Tanz im August 2015 ein großes „hau“. Und da das Festival ab 2016 mit erhöhter Senatsförderung rechnen kann, war es auch ein materielles „hau“ zwischen Kulturschaffenden und den politisch Verantwortlichen.

Karin Coper, 10.9.2015

 


Immer häufiger finden auch
zirzensische Elemente Einzug im
zeitgenössischen Tanz, wie hier bei der
koreanischen Compagnie Bul-ssang.


Das TAO Dance Theatre setzt im Tanz
auf mediatative Entschleunigung. Die
Compagnie ist aus China nach Berlin
gereist.

Rosemary Butcher gilt in England als
Ikone des zeitgenössischen Tanzes.
In Berlin war sie unter anderem mit
dem Stück Test Pieces vertreten.


Weg von der Bühne in theaterferne
Räume: Ein Trend, den Lucinda Childs
mit eingeleitet hat. Available Lights
stammt aus dem Jahr 1983.


Ein Stück über die Lebensverhältnisse
chinesischer Artisten zeigt The Ghosts,
eine Uraufführung der argentinischen
Choreografin Constanza Macras.