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"Wir - das sind die anderen"



 
 

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Hochverehrtes Publikum

Zu den Points of honor gehört bei Opernnetz die Kategorie Publikum. Sie gibt den Rezensenten die Möglichkeit, sich in allgemeiner Form über besondere Merkmale, Reaktionen, und zum Verhalten des Publikums zu äußern und ist – natürlich – ein sehr subjektiver Eindruck.

Wer kennt sie nicht: die Flüsterer, die Knisterer, die Hüstler, Raschler, Räusperer und Sitzrutscher. Ausgerechnet, wenn Mimi, nur noch schwach seufzend, ansetzt … Schon Tucholsky nennt das Theater ein „Hustenhaus“, als Mittel gegen diese Störungen empfiehlt er das Medikament „Aethyl-Phenil-Lekaryl-Parapherinan-Dynamit-Acethylen-Koollomban-Piporol“. Hierbei genügt es schon, den Namen mehrere Male schnell hintereinander auszusprechen. Im Theater gehustet, geraschelt, geräuspert wurde und wird immer schon. Bei zurzeit jährlich etwa 32 Millionen Besuchern von Theatern und Konzerten ist das kein Wunder, auch wenn die Publika durchaus verschieden sind.

Das Publikum von Opernaufführungen im rheinisch-katholischen Köln unterscheidet sich sehr deutlich von dem im Aalto-Theater in Essen oder den Besuchern des Theaters am Gärtnerplatz in München. Die Musicalfreunde in Oberhausen sind andere als die in Bielefeld oder Berlin, haben andere Erwartungen, Erfahrungen und andere Geschmäcker, sie reagieren anders, beim Beifall wie bei den Buhrufen. Ob in der Kleidung, dem Verhalten oder dem Beifall – die Unterschiede sind offenkundig. So tritt das Publikum in Städten deutlich legerer auf als in mehr ländlich lokalisierten Häusern. Während in Universitätsstädten das meist jüngere Publikum schon mal direkt nach dem Sporttraining auch im Jogginganzug neben einem sitzt, fällt man in einigen kleineren Häusern ohne formelle Kleidung noch auf. Allerdings, Krawatten sind immer mehr out, sie sind den Silberköpfen und formellen Besuchern vorbehalten. Ach – und der Beifall: Ein „faules“ Publikum quält sich schon bei einem Vorhang, die Begeisterten hören auch nach zehn Minuten erst auf, wenn das Saallicht aufscheint. Und diese standing ovations – eine furchtbare und nur selten gerechtfertigte Beifallsform, inzwischen aber vielerorts Alltag. Ein amerikanischer Intendant war überrascht, nein, eigentlich verärgert über diese stehenden Klatsch-Marsch-Ovationen. „It should be reserved for outstanding presentations – only.“ Und wenn dann die Zuschauer stehen, sieht selbst der informierte und geübte, deshalb still sitzend protestierende Besucher nichts mehr. Er kann nur warten – oder eben auch aufstehen, selbst wenn er das Stück ausgesprochen mies findet. Die Buhs und Pfiffe, lange Zeit eher den Leuten „auf den billigen Plätzen“, also den Rängen vorbehalten, kommen heute eher mitten aus dem Parkett, wo die Kundigen und die Fans sitzen. Doch überall begegnen sich Theater und Publikum, sie sind aufeinander angewiesen – auf Gedeih und Verderb.

Aus der Sicht von Freunden und Gegnern

Künstler erzählen von ihren Erfolgen und geben mit brüchiger Stimme zu, dass es die Beifallsstürme des Publikums sind, die sie immer wieder auf die Bühne holen, die alles für sie bedeuten. Selbst der bärbeißig-scharfzüngige Grantler Gerhard Polt bestätigt, wie schön es für einen Künstler ist, vor vollem Haus zu spielen: „Das ist immer eine Gnade.“

Zwischen Künstler und Publikum bleibt auch manches ungesagt. Von der niederschmetternden Erfahrung eines Sängers, der vor halb gefüllten drei Reihen singt und sich, nach zerflatterndem Beifall knapp verbeugend, völlig deprimiert zurück zieht, der Schauspielerin, deren ganze darstellerische Ekstase nicht einmal zu den wenigen Besuchern im ersten Rang hinauf reicht, von dem Orchester, das nach Monate langer intensiver Probenarbeit für eine Zuhörerschar aufspielt, die zahlenmäßig kleiner ist als das Orchester – von diesen meist ungerechten, deprimierenden und zutiefst ernüchternden, realen Erfahrungen berichten Künstler sehr selten, erfahren Theater- und Konzertbesucher noch  seltener etwas. Doch Künstler kennen sie und setzen sich trotzdem oft Abend für Abend den Reaktionen – oder den Launen? – ihres Götzen Publikum aus. Kein Wunder, dass ihre Kommentare über die „Bestie“ Publikum keineswegs nur freundlich ausfallen.

Das Schlimme und Unvermeidliche ist: Künstler und Publikum sind aufeinander angewiesen, keiner kann ohne den anderen existieren. So sind die Beziehungen zwischen beiden durchaus zwiespältig, sie reichen von der distanzlosen Vergötterung über die kühle Wahrnehmung bis zur gegenseitigen Beschimpfung. Selbst die wenig formelle Pop-Szene im Skaters Palace im braven Münster schreckt vor einer Publikumsbeschimpfung nicht zurück.

Künstler und ihr Publikum, Theater und Konzerte und ihre Publika … ein nirgendwo festgelegtes, immer wieder spannendes Verhältnis zweier Akteure, die unvermeidlich auf einander angewiesen sind. Das Publikum treibt die Künstlerinnen und Künstler an, es ist der Motor, die Motivation, es spendet Beifall, lobt, buht und pfeift. Der Künstler, der Begnadete, der Unterhalter, der Weltverbesserer bemüht sich, erlaubt Blicke in sein Inneres, outet sich oder erzählt von der besseren Welt, die er kennt. Das Publikum setzt die Maßstäbe, ist der unbarmherzige, gnadenlose Kritiker, der Maßstab jeder darstellenden Kunst. Es kann den Künstler zum angehimmelten Idol, zum gefeierten Helden, zum Gott machen. Es kann ihn in den schwarzen Abgrund stürzen, in dem er, kaum als neues Glanzlicht wahr genommen, überraschend und manchmal endgültig  schon wieder verschwindet. Der Künstler – Idol und Täuscher, das Publikum – Gott und Teufel.

Beifall erst bei Hofe

Was einem Publikum präsentiert, was „publik“, öffentlich gemacht wird, gehört „dem Volk, der Allgemeinheit“ und ist damit allgemein interessant und zugänglich. Es wird öffentlich, teilöffentlich oder nicht öffentlich einer meinungsfähigen Allgemeinheit präsentiert. Das können Zuschauer, Zuhörer in einer Menschenmenge oder die Besucher, Teilnehmer, Schaulustige einer Veranstaltung, aber auch das „breite“ Publikum sein.
Als die Plätze, Foren, Markthallen und ähnliche Versammlungsorte für die Information, Agitation und Unterhaltung von Menschengruppen zu klein und für immer mehr Menschen vor allem in den städtischen Siedlungen spezielle Versammlungsräume und Treffpunkte notwendig wurden, war die Idee des Theatrum und mit ihm des Publikums geboren. Ob öffentliche Gerichtsverhandlungen, Bestrafungen, rituelle Zeremonien oder Feste, sie alle brauchten eine Schaustätte, sie alle zielten auf und bekamen ihr Publikum. Ob bei einer Hinrichtung, Beerdigung, der gemeinsamen Trauer, der Predigt in der Kirche oder der Politikerrede – das Publikum johlt, schreit, trampelt, tanzt, klatscht Beifall, buht oder pfeift. Es ist – immer schon – aktiver Teil der Veranstaltung. Die ritualisierte Art der Mitwirkung in Form unseres Beifalls entwickelte sich erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Form der „Bezahlung“ an den höfischen Theatern.

Schriftsteller, Bühnenautoren, Schauspieler möchten natürlich dem Publikum, ihrem Publikum, gefallen und im Beifall baden. Aber sie sind leider nicht immer gleicher Meinung, ja, sie ärgern sich einer über den anderen. Ein Gang durch die Geschichte des Theaters fördert reichliche und zum Teil recht grobe Kritik der Künstler an ihrem Publikum zutage. Die bekannten Theaterfürsten der deutschen Klassik, Goethe und Schiller, nehmen kein Blatt vor den Mund. Zum Publikum und zur Kritik haben beide ein gespaltenes Verhältnis. Goethe schimpft über die Flegel von Kritikern, berühmt und oft zitiert: „Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent“. Das Publikum kommt nicht besser weg. In einem Brief bezeichnet Goethe das deutsche Publikum als „eine närrische Karikatur des demos (Volk); es bildet sich wirklich ein, eine Art von Instanz, von Senat auszumachen, und im Leben und Lesen dieses oder jenes wegvotieren zu können, was ihm nicht gefällt“. Er wünscht sich ein viel offeneres und emotionaleres Publikum:„Ei! So habt doch endlich einmal Courage, euch den Eindrücken hinzugeben, euch ergötzen zu lassen, euch rühren zu lassen, euch erheben zu lassen …“.

Schiller zielt nicht weniger drastisch auf das Publikum: „Es gibt nichts Roheres als den Geschmack des jetzigen deutschen Publikums“, dessen „Mittelmäßigkeit“ er scharf kritisiert. Auch der bissige Karl Kraus will mit dem Publikum mal so richtig Tacheles reden und seine Wortkunst dazu nutzen, „um mit dem Publikum doch einmal deutsch zu reden“.

Kurt Tucholsky wendet sich mit der provokanten Frage ans Publikum „O hochverehrtes Publikum, sag mal: Bist du wirklich so dumm?“ Er beklagt den „Fluch der Mittelmässigkeit“, der auf den Theatern laste, und fragt das Publikum: „Kannst du keine Wahrheit vertragen? Bist also nur ein Griesbrei-Fresser? Ja, dann ... Ja, dann verdienst du‘s nicht besser.“

Unterschiede der Kulturen

Peter Handke gibt sich mit solcher Kritik nicht zufrieden, er greift rabiat zur Publikumsbeschimpfung, er will die Zuschauer aus ihrer Selbstzufriedenheit aufschrecken. Die Uraufführung seines Theaterdebüts Publikumsbeschimpfung gerät 1966 unter der Regie von Claus Peymann zu einem emotionsgeladenen Happening, das seitdem alsInitialzündung der 68er-Protestkultur“gefeiert wird, als ein „Lehrstück über Gegenkultur und ihre Grenzen“. „Nach Störungen und heftigen Zwischenrufen“echauffiert sich Handke über das „reaktionäre Zwischenrufrepertoire“ und verspricht seinem Publikum: „Ihre Schaulust wird nicht befriedigt werden“. Auch das ist nicht überall so. In anderen Kulturen, etwa in Afrika, möchten die Zuschauer mitspielen – ob es zum Stück passt und dem Regisseur gefällt oder nicht. Da „schreit und klatscht und tanzt das Publikum, es jubelt und ist ‚völlig verrückt‘“.

Die international erfahrene Sopranistin Ernestine Stuurman aus dem Opernchor der Cape Town Opera berichtet aus eigenen Erfahrungen. „Das Publikum wird in Südafrika physisch Teil des Konzerts, während es in Europa eher mental und emotional Teil wird“. Die junge Mezzo-Sopranistin Rebecca Jo Loeb hat auch in Deutschland schon Überraschungen erlebt …

Wer Publikum und Theaterschaffende als Teil der Gesellschaft begreift, kann über all diese Unterschiede nicht überrascht sein. Das Spiel auf der Bühne spiegelt nichts anderes als das Spiel in Gesellschaft, mit all seinen ver-rückten Seiten. Nochmals Polt: „Wir – das sind die anderen.“

Horst Dichanz

 


Ob im Film oder auf der Bühne
Komiker Gerhard Polt braucht das
Publikum, um sich zu motivieren.

Kurt Tucholsky gehört zu den ärgsten
Kritikern des Publikums. Das
begeistert das Publikum, seit sich
Tucholsky dazu geäußert hat.


Schriftsteller Peter Handke
machte Furore mit seiner
Publikumsbeschimpfung, die
Claus Peyman uraufführte.


Von den unterschiedlichen Kulturen
des Publikums weiß Ernestine
Stuurman ein Lied zu singen.