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Abschied vom Programmheft


 
 

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Konsequente Entwicklung

In Neuss ist es bereits eingeläutet: Das Ende des Programmheftes. Statt teurer Druckerzeugnisse gibt es im Rheinischen Landestheater lediglich Handzettel mit den Basisinformationen, den Rest an Informationen gibt es da, wo er schon längst steht – im Internet. Die Entwicklung ist konsequent. Ihr gegenüber stehen liebgewordene Gewohnheiten.

Christine Schmücker trat ihren Dienst als Leiterin PR und Marketing am Rheinischen Landestheater Neuss an, als Bettina Jahnke dort zur Intendantin berufen wurde. Das war vor etwas mehr als fünf Jahren. Als Jahnke kürzlich ihren Vertrag verlängerte, wurde es Zeit zu resümieren und zu schauen, in welche Richtung sich das Theater weiter entwickeln soll. „Es war an der Zeit, alles – vor allem inhaltlich – auf den Prüfstand zu stellen“, erinnert Schmücker sich. Und damit standen auch die Programmhefte zur Disposition. In der Regel 16 Seiten, auf denen sich neben den üblichen Informationen wie Besetzung und Inhaltsangabe auch Fotografien, Biografien, Hintergrundmaterial und Originalbeiträge fanden. Etwa 800 Exemplare wurden für ein Stück gedruckt und zum durchaus akzeptablen Einzelpreis von zwei Euro angeboten. „Aber wir haben davon immer weniger verkauft, obwohl wir die Hefte sogar beworben haben und die Besucher, die sie gekauft haben, mit den Inhalten zufrieden waren“, resümiert die Pressesprecherin. „Unsere Erfahrung ging dahin, dass die Leute sich nicht mehr mit den Programmheften beschäftigen wollen.“ Die Verkaufsstatistiken zeigten nämlich, dass selbst Werke mit einem hohen Erklärungsbedarf nicht zu einer Steigerung des Abverkaufs führen.

Vom Theaterzettel zum Internet

Am Anfang stand der Theaterzettel. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war er gebräuchlich und führte Autoren und Mitwirkende auf. Zusätzlich gab es Textbücher, die beispielsweise bei Opernaufführungen das Verständnis der Handlung erleichterten. Im Laufe des 20. Jahrhunderts verschmolzen die beiden Dokumente zum Programmheft. Die ehemaligen Textbücher wurden dabei zu Handlungszusammenfassungen verkürzt, weil das Mitlesen mit der vollständigen Verdunkelung des Zuschauerraums ohnehin entfiel. Während bei den institutionalisierten Theatern in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine „Verwissenschaftlichung“ der Inhalte zu beobachten ist, werden die Programmhefte der Musical-Industrie mehr und mehr zu aufwändigen Bildbänden, für die ein Zuschauer häufig zehn Euro und mehr hinblättern muss. Damit hat sich auch die Bedeutung der Programmhefte verändert. Vor Beginn der Aufführung gibt es in der Regel ohnehin keine Gelegenheit, den Inhalt zu rezipieren. Im Grunde sind Programmhefte also längst ein Anachronismus, der vor allem als Souvenir noch Bedeutung hat. Die gelieferten Informationen sind ohnehin redundant, seitdem jedes Theater über eine eigene Website verfügt, so schlecht sie auch immer ist. Mindestens marginale Werk- und Inszenierungsinformationen sind dort immer abrufbar.

Trotzdem kann kein Theater- oder Opernhaus ernsthaft an dem Bedürfnis vieler Zuschauerinnen und Zuschauer vorbeigehen, vor der Aufführung eine Unterlage in die Hand zu bekommen, die sie mit Informationen versorgt, die viele Besucher als unentbehrlich für den Besuch einer Aufführung betrachten. „Was ist eigentlich, wenn wir den Spieß rumdrehen und die Programmhefte komplett abschaffen?“ war das Ergebnis etlicher Diskussionen in Neuss. Und so gibt es dort seit dieser Spielzeit wieder den Theaterzettel. Ganz kostenlos und selbstverständlich modernen Kommunikationsbedürfnissen angepasst. „Mit dem Flyer gelingt es uns, sehr viel mehr Menschen anzusprechen. Plötzlich hat jeder das Papier in der Hand, und die Freude über die zusätzliche Information ist groß“, erzählt Marketingexpertin Schmücker. Auf der Vorderseite des Papiers, das nicht größer als ein Drittel einer DIN-A4-Seite ist, findet das Motto der Spielzeit, der Titel des Stücks, ein QR-Code und das Logo des Landestheaters Platz. Auf der Rückseite geht es kleinteiliger zu. Da finden sich in kleiner Schrift eine Inhaltsangabe, ein Statement des Regisseurs, die Kurzbiografie, die Besetzung und eine Terminliste der Aufführungen. So verfügt jeder Besucher, jede Besucherin, über die Basis-Informationen. Über den QR-Code können überdies Internet-erfahrene Besucher schnell über ihr Smartphone auf der Website des Theaters zusätzliches Wissen erwerben. Die Redundanz ist aufgehoben und überdies kann der Inhalt der Website noch sehr viel interessanter gestaltet werden.

Digitale Konsequenz

Was an Informationsmaterial auf der Website zur Verfügung gestellt wird, befindet sich in Neuss derzeit noch in der Entwicklung. „Neben den Basis-Informationen experimentieren wir, welche Dinge die Zuschauerinnen und Zuschauer zusätzlich interessieren könnten“, erklärt Christine Schmücker. Da finden sich beispielsweise verschriftlichte Interviews mit einer Regisseurin, Lebensdaten der Hildegard Knef zum Stück Für mich soll’s rote Rosen regnen oder ein Link zu weiterführenden Inhalten. Selbstproduzierte Audio- oder Video-Beiträge sucht man derzeit noch vergebens. Aber grundsätzlich sei hier alles denkbar, betont die Pressesprecherin. Setzt sich das System durch, wird sich für die Dramaturgen hier noch ein weites Feld eröffnen. „Zumal wir eine offene Form finden wollen, in der wir uns den Erfordernissen des individuellen Werks anpassen können“, sagt Schmücker.

Die Erinnerung bleibt

Ebenfalls nicht abschließend beantwortet ist die Flüchtigkeit des Mediums. Schmücker kann sich hier ein zusätzliches Archiv vorstellen, in dem die Inhalte auch über die Laufzeit des jeweiligen Werks hinaus auffindbar wären. Ein solches Archiv hat in diesen Tagen die Scala in Mailand vorgestellt.

Finanziell rechnet sich das „Neusser Modell“ allemal. Die Werbekunden, die das Programmheft bisher aufgefüllt haben, konnten nur zu einem Bruchteil zur Refinanzierung des Heftes beitragen, von den aufwändigen Akquistionsbemühungen einmal ganz abgesehen.

Was aber ist mit dem Souvenir? Dem Erinnerungsstück, das in manchen Haushalten ganze Bücherwände füllt? Davon werden wir uns wohl verabschieden müssen, wenn die Neusser sich als Trendsetter erweisen. Dann bleiben uns die Trailer auf YouTube, ein Archiv im Internet und, das ist nicht das Schlechteste, Gespräche mit Freunden über die Erinnerungen an gemeinsam besuchte Aufführungen.

Michael S. Zerban, 1.10.2014

 


Bettina Jahnke, Intendantin am
Rheinischen Landestheater Neuss, hat
ihren Vertrag verlängert und will das
Theater konsequent weiter entwickeln.


Wozu redundante Informationen
anbieten, die keiner will? Christine
Schmücker, Leiterin PR und Marketing,
hat die Programmhefte abgeschafft.


Selbst bei erklärungsbedürftigen
Inhalten stieg der Verkauf der
Programmhefte nicht weiter an. Besser
kann das Publikum Desinteresse
kaum signalisieren.


Statt der Programmhefte gibt es nun
kostenlose Flyer für alle und erweiterte
Inhalte im Internet. So wird Wissen
demokratisch und die Arbeit für die
Dramaturgen weniger.

Fotos: Björn Hickmann