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Privatoper für das Land


 
 

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Oper querfeldein

Ganze Landstriche in Deutschland sind inzwischen kulturell ausgeblutet. Aber die Bewohner nehmen das nicht hin. Abseits staatlicher Unterstützung entstehen neue Kulturformate wie die Opernale in Mecklenburg-Vorpommern. Eine Privatinitiative, die die Bedürfnisse der Menschen ernst nimmt – im Gegensatz zur Politik, die eigentlich dazu verpflichtet ist.

Wenn die Menschen nicht in die Oper gehen (können), muss sich vielleicht die Oper bewegen und zu den Menschen gehen? Nicht ganz neu, eigentlich die Lebensweise des fahrenden Volkes, das noch mit Pferdekarren, Töpfen, Ziege und Dekorationen von Jahrmarkt zu Jahrmarkt, von Burg zu Burg zog, und sich seines recht ungeschützten, aber freien Lebens freute. In Mecklenburg-Vorpommern, unweit der Universitätsstadt Greifswald an der Ostseeküste, haben sich Theater- und Opernbesessene dieser alten Form besonnen und versuchen, aus der Not eine Tugend zu machen. Die Not: Das ohnehin dünn besiedelte Mecklenburg-Vorpommern kämpft ständig, aber recht erfolglos gegen die Bevölkerungsabwanderung in die Städte und nach Westen. Die insgesamt 14 Theaterhäuser in unterschiedlicher Trägerschaft finden sich meist in Städten wie Greifswald, Neubrandenburg, Rostock, Schwerin, Stralsund. Sie müssen jedes Jahr neu um ihre Besucher und ihren Etat kämpfen, erleben immer wieder „Umstrukturierungspläne“ des spareifrigen Kultusministers Brodkorb, müssen ständig Personal kürzen, die Künstlergagen herunterdrehen, in maroden Häusern spielen – der ganz normale kulturelle Wahnsinn. Oper auf dem Lande? Für wen, womit, warum?

Gerade diese Frage, dass über das Warum gestritten und argumentiert werden muss, ärgert seit langen Henriette Sehmsdorf, gelernte Opernregisseurin und engagierte Dame vom Fach. Als wenn Kultur, als wenn Oper den Städtern vorbehalten sei, als wenn „Landleute“ keinen Kulturbedarf hätten, als wenn nicht auch die in Vorpommern verteilten Opernfreunde ein Recht auf „ihre“ Kultur, ihre Opern hätten. – Aber wie? An öffentliche Finanzierungen, Zuschüsse, ja nur Unterstützung braucht man nicht zu denken. Kreative Ideen für Kultursucher auf dem Lande sind gefragt. – Und Land ist hier, viel Land.

Originelle Werke im Taschenformat

Die Fahrt zur Verabredung mit der Initiatorin der Opernale führt durch weite, leere Felder, kleine Siedlungen, noch nicht einmal Dörfer, über teilweise überflutete Straßen – ein leeres Land. Hier mal eine Schule, dort eine kaum noch gebrauchte Kirche, noch eine Schule, nicht alle im besten Zustand, aber wind- und wetterfest, einige sogar heizbar. Hin und wieder ein imposantes Wohnhaus, auch herausgeputzte Neubauten, Villen im Speckgürtel von Greifswald – alles denkbare Spielorte! Die Idee von Oper querfeldein ist geboren, im fünften Jahr realisiert und schon als Bundessieger prämiert. Sehmsdorf ist begeistert und ein wenig stolz. Mit ihren Verein Opernale und einem jeweiligen Sommerprogramm zieht sie über Land: in ein Wirtshaus, den Gemeindesaal, ein etwas üppigeres Wohnzimmer oder auch in die Schule, um Opern aufzuführen. Idealistenwerk? Zweifellos! Kleinkram, Laientheater – keineswegs, ein uriges Volksstück mit Laiendarstellern und Musik vom Band – Irrtum. In originellen Aufführungen bringt die Opernale den Schauspieldirektor als „barocke Casting-Show“, geht mit den Bettlerdamen auf „einen musikalisch-theatralischen Streifzug durch das nächtliche London von 1720“, und führt mit der Bettleroper den „ Todesstoß gegen den etablierten Kunstbetrieb und einen Seitenhieb auf die korrupte Wirtschafts- und Sicherheitspolitik der englischen Krone“ und – verhebt sich nicht. Sie erreicht mit ihrem Konzept und den Aufführungen eine zuverlässige Zahl eher bürgerlicher Besucher, die sich kulturell unterversorgt fühlen, und eine wachsende Zahl anreisender Gäste. Die Jury des Bundeswettbewerbs Deutschland - Land der Ideen hat Recht, wenn sie die Opernale als Bundessieger in der Kategorie Kultur für ihre Initiative auszeichnet, ländliche Räume neu zu denken.

Die Opernale zählt wachsende Zuschauerzahlen und entwickelt inzwischen weitere, neue Formen. Hierzu gehört in diesem Jahr das Konzept der „Wohnzimmerkonzerte“, das nun alternierend mit einer großen Aufführung jährlich veranstaltet werden soll. Die Opernale sucht Gastgeber, die im August oder September Künstler und Besucher zu einer Aufführung in ihr Wohnzimmer, auf die Terrasse, in die Garage, den Heuboden oder in einen öffentlichen Raum einladen. Mit ihrem neuen Schwerpunkt bietet die Opernale ein Kulturformat an, bei dem professionelle Musikergruppen ins Haus kommen und mancher privaten Feier ein außergewöhnliches Flair verleihen. Bis zum 30. Januar können sich wagemutige Interessenten noch bewerben. Sehmsdorf ist guten Mutes, dass die Highlights aus den bisherigen Stücken, besonders der letztjährigen Aufführung Ist Lieb ein Feur halbszenisch und mit Originalkostümen ihre Liebhaber finden werden. Die Gastgeber müssen sich am Gesamtaufwand einer Aufführung beteiligen.

Gastgeber sind willkommen

Sind die Gastgeber erst einmal gefunden, kann Sehmsdorf auf ein verzweigtes Netzwerk von Partnern zurückgreifen, das die Finanzierung und Umsetzung dieser gemeinnützigen Kulturfestivals für Vorpommern sichert. Dabei kommen ihr die eigenen Theatererfahrungen am Burgtheater Wien, den Häusern in Stralsund und Greifswald, den Dresdner Musikfestspielen und weitere Regiearbeiten sehr zu Nutze. Mit ihrem Ehrgeiz, die Opernale als Begegnungsplattform zu gestalten, gelingt es ihr, Künstler für diese neue Kulturarbeit zu gewinnen, denen sie sogar ein Honorar anbieten kann. Die Organisatorin freut sich, dass „das gesamte Team, einschließlich der Techniker und guten Geister im Hintergrund, die Strapazen der vielen wechselnden Veranstaltungsorte bislang gemeistert hat. Das ist nicht nur eine Herausforderung an den Profi in uns, sondern auch an den Menschen.“ Für die vorjährige szenische Interpretation eines Gedichtes der in Greifswald geborenen und gern als Pommersche Sappho bezeichneten Sibylla Schwarz bedanken sich begeisterte Besucher „für die fesselnde und sensible Aufführung Ist Liebe ein Feuer gestern in Ludwigsburg. Das traumhafte Ambiente dort auf dem Dachboden war so unmittelbar und mitreißend für uns Zuschauer.“

Ob sich die Opernale zu einer MV-Biennale weiter entwickeln kann und wird, vermag noch niemand zu beurteilen. Dazu ist diese Idee, kreativ aus den Nöten Vorteile zu machen, zu neu, das Umfeld noch zu instabil. Doch dieses Modell verdient über das bewundernswerte Engagement der beteiligten Idealisten hinaus auch kulturpolitisch genauere Beobachtung. Vielleicht entwickelt sich hier in Vorpommern, zwischen kleinen Siedlungen, leeren Feldern und reichlich mit Wasser gefüllten Gräben eine neues Modell der Kulturverteilung „auf dem Land“: Statt der geballten Zentralversorgung in Zentralorten und einer sporadischen Versorgung durch Tourneetheater könnte sich die Opernale als eine neue Variante zu einem vielfarbigen Mosaik von kulturellen Angeboten entwickeln, das mit wechselnden Inhalten und flexiblen Formaten Innovationen „aufs Land“ bringt: als Opernale querfeldein.

Horst Dichanz, 24.1.2015

 


Henriette Sehmsdorf, von Beruf
Opernregisseurin, hat die Opernale
ins Leben gerufen und will sie weiter
ausbauen.


Viel Fläche, viel Wasser, verdammt
wenig Kultur: Die Bewohner von
Mecklenburg-Vorpommern wollen auch
Musiktheater.


Opernhäuser sind in Mecklenburg-
Vorpommern nicht vorhanden. Das
Musiktheater übernehmen die Theater
– so lange sie noch können.


Je mehr Personal die Opernhäuser
freisetzen, desto häufiger entstehen
kleinere, oft sehr reizvolle Formate –
mit ungesicherter Finanzierung.


Ob „kleinklein“ eine Lösung, ein
Gegenentwurf, eine Ergänzung oder
einfach eine falsche Entwicklung ist,
muss die Zukunft zeigen.